Als die Eisenbahn vor 200 Jahren nach Europa kam, war die Aufregung groß: Kann ein Mensch diese Geschwindigkeit überhaupt aushalten? Bis dahin war man – wenn überhaupt – in der Pferdekutsche gereist. Es holperte und ruckelte, oft war man mehrere Tage unterwegs.
Plötzlich konnte man sich drei-, fünf- oder zehnmal so schnell fortbewegen. Auf schnurgeraden Schienen. Die Menschen fühlten sich wie ein Projektil, das durch die Landschaft geschossen wurde. Was macht das mit dem Körper? Und: Kann da die Seele überhaupt mitkommen?
Aus heutiger Sicht, wo wir uns mit nahezu Schallgeschwindigkeit und an der Grenze zum Weltraum zum Yoga-Retreat nach Bali katapultieren lassen, wirkt das geradezu niedlich.
Die Vernichtung des Raums
Dass der menschliche Körper anpassungsfähig ist, zeigte sich schnell. Es gab zwar hier und da Schwindel oder Kopfweh, aber im Großen und Ganzen gewöhnte man sich rasch an das neue Tempo.
Weitaus gravierender war da der Eingriff in unser inneres Koordinatensystem. Ein über Jahrhunderte gewachsenes Gefühl von Zeit und Raum brach binnen weniger Jahre zusammen. Geschwindigkeit, das ist Weg pro Zeit. Bewege ich mich schneller, brauche ich weniger Zeit, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen – oder kann in derselben Zeit weiter fahren.
Aus Tagen werden Stunden. Ziele, die zuvor unerreichbar schienen, liegen plötzlich vor der Haustür. Heinrich Heine, der 1831 nach Paris übergesiedelt war, drückte es so aus:
Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.
Ein Begriff von damals ist die Vernichtung des Raums. Was vorher nicht nur durchreist, sondern auch erlebt wurde – in Gasthöfen, Gesprächen und Landschaft –, wurde zur Kulisse, die am Fenster vorbeizieht. Wer in Paris in den Zug stieg, hatte nur noch den Duft der Riviera in der Nase. Was dazwischen lag, war irrelevant geworden.
Flughöhe Null
Ein wenig lustig ist es ja schon: Es sind genau diese Strecken von damals, die wir heute als besonders romantisch wahrnehmen. Strecken, die sich an Flusstälern entlang schlängeln. Die die Alpen noch überqueren, statt sie zu durchbohren.
Bemerkenswert ist auch das Tempo, in dem Europas Eisenbahn errichtet wurde. Innerhalb kürzester Zeit schuf man ein Netz, das praktisch bis heute besteht. Nach anfänglich rasanten Steigerungen stagnierte bald auch die Reisegeschwindigkeit. Eine Fahrt von Berlin nach Breslau etwa, dem heutigen Wrocław, dauert noch genauso lange wie vor hundert Jahren.
Sicher, da stecken auch andere Gründe dahinter, neue Grenzziehungen etwa. Entscheidend aber ist: Technischer Fortschritt verläuft nicht gleichförmig, sondern wie Ketchup aus einer Flasche: lange passiert nichts, dann kommt plötzlich alles auf einmal – erst recht, wenn man hinten ein bisschen klopft.
Bis zum nächsten großen Schub dauerte es so bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: der Hochgeschwindigkeitsverkehr, unterwegs auf ertüchtigten oder eigens errichteten Trassen. In Frankreich ging die erste Schnellfahrstrecke 1967 zwischen Paris und Toulouse in Betrieb, Anfang der 1980er kam der TGV auf die Schiene. Deutschland zog bald nach – mit dem ICE und der Neubaustrecke von Hannover nach Würzburg.
Über solche Rennbahnen flitzen inzwischen Superzüge mit 300 Stundenkilometern und mehr. Neben Frankreich tun sich in Sachen Höchstgeschwindigkeit vor allem Italien und Spanien hervor. Schauen wir über Europa hinaus, kommt einem Japan mit seinem Shinkansen in den Sinn oder das moderne China.
Schneller gleich besser?
Doch ist schneller immer besser? In der Schweiz hat man festgestellt, dass Züge mit 200 km/h am wirtschaftlichsten zu betreiben sind. Mit höheren Geschwindigkeiten könnte man zwar ein paar Minuten sparen, brächte aber den ganzen Takt durcheinander.
Damit sind wir bei einem interessanten Punkt: Die Geschwindigkeit des individuellen Fahrzeugs ist eigentlich egal. Ein technisches Detail, wie der Druck in den Bremsleitungen.
Viel entscheidender ist doch die Zeit, die zwischen Haustür und Zielort verstreicht. Die Frage, wie lange ich von A nach B brauche, ist mehr als die Zahl auf einem Tacho. Dazu gehören nämlich auch Wegezeiten, Wartezeiten, Umstiege. Und ja, natürlich auch Verspätungen.
Was bringt es, mit 300 Sachen zum Eurotunnel geschossen zu werden, wenn ich vorher zwei Stunden am Terminal absitzen muss? Oder ein TGV nach Barcelona, wenn er nur zweimal am Tag fährt? Systemisch kann ein Netz aus langsameren, aber häufiger verkehrenden und zuverlässigeren Zügen leistungsfähiger sein als eine Sammlung von schnellen Punkt-zu-Punkt-Verbindungen.
Freilich ist das kein grundsätzliches Argument gegen den Hochgeschwindigkeitsverkehr, denn das eine muss das andere ja nicht ausschließen. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass gerade Anbieter von Superschnellzügen dazu neigen, ihren Reisenden mit Check-ins und anderen Schikanen das Leben schwer zu machen. Zeit, die man erstmal wieder reinfahren muss.
Ein Plädoyer für die Langsamkeit
Rasen ist das Maß der Dinge, das Langsame hat dagegen keine Lobby. Wir alle leben unter dem Mantra, keine Zeit zu verlieren. Hierhin eilen, dorthin hetzen, den Tag effektiv nutzen.
Eigentlich komisch, denn wir werden immer älter, sind immer gesünder und können unsere Zeit immer flexibler einteilen. Warum sich also nicht mal wieder bewusst Zeit nehmen beim Reisen? Den durchreisten Raum mal wieder wahrnehmen? Mal wieder Zwischenstation machen?
Neulich bin ich mit dem AVE, dem spanischen Superzug, von Málaga nach Barcelona gefahren. Komfortabel und pünktlich, es gab sogar Essen am Platz. Aber: An den Raum dazwischen habe ich so gut wie keine Erinnerung. Selbst Madrid ließen wir links liegen. Ich habe geradezu ein schlechtes Gewissen gegenüber Spanien – weil ich dort war, aber auch nicht dort war.
Gebt mir dagegen einen Intercity, der sich halb so schnell durch die Landschaft schlängelt. In dem ich gemütlich in den Speisewagen gehen kann. Und wo ich die Aussicht genießen kann, nicht Tunnel und Lärmschutzwände. Nennt mich altmodisch, aber hier fühlt sich meine Seele mehr zuhause als in den modernen Geschossen.
Ich habe mir vorgenommen: Beim nächsten Mal nehme ich wieder den langsamen Zug. Und steige unterwegs mal aus.
Und ihr? Reist ihr lieber schnell und effizient – oder mit Zeit zum Schauen, Staunen, Zwischenhalten? Schreibt gern einen Kommentar. Ich bin gespannt, wie ihr unterwegs seid!
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