Es sind bemerkenswerte Dinge, die sich in diesem 2020 ereignen. Aus Eisenbahn-Sicht zu den bemerkenswertesten gehören dürfte eine Pressekonferenz am Dienstag, die den Spiegel zu folgender Schlagzeile verleitet: „Deutsche Bahn plant neue Nachtzugverbindungen durch Europa“. Andere Medien stimmen in den Applaus ein, das Echo ist enorm.
Moment, Deutsche Bahn und Nachtzug?
Ach ja, da war doch was. Der Ausstieg der DB aus dem Nachtzug-Geschäft im Dezember 2016 ist überhaupt der Grund, warum wir ein paar Jahre später ständig vom „Comeback“ oder der „Renaissance“ der Nachtzüge hören.
Okay, die DB hat’s verbockt. Aber darf man sich deswegen nicht mehr freuen, wenn in Europa neue Nachtzüge angekündigt werden? Doch, natürlich, man muss sogar. Für das Klima. Für die gepflegte Art des Reisens. Aber wie immer, wenn kollektiver Jubel ausbricht, sollte man genauer hinsehen.
Unterwegs zum TEE 2.0
Was also ist passiert? Am vergangenen Freitag verschickt das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Einladungen für eine virtuelle Veranstaltung. Wichtige Verkehrspolitiker aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich sollen auftreten, außerdem die Chefs der Bahnen DB, ÖBB, SBB und SNCF. Verkündet werden soll eine Kooperation für neue Nachtzugverbindungen, und zwar „auf dem Weg zum Trans-Europ-Express 2.0“.
Das Konzept „TEE 2.0“ poppte im September völlig unerwartet in der Öffentlichkeit auf wie ein Monolith in der Wüste von Utah. Das Ministerium von Andreas Scheuer nimmt uns darin mit auf einen Ritt quer durch Europa. Von Stockholm bis Budapest, von Warschau bis Paris und von Frankfurt bis Barcelona.
Aus den bunten Linien in den künstlerisch nicht immer wertvollen Grafiken sollen eines Tages Nachtzüge werden, soviel ist klar. Nur über das „Wann“, das „Wie“ und das „Wer soll das überhaupt betreiben“ schweigt man sich aus. Auch die Antwort auf eine kleine Anfrage im Bundestag trägt wenig zur Aufklärung bei. Und vor allem: Dass andere Länder und Bahnen Europas dem Scheuer-Konzept irgendeine Bedeutung beimessen oder es gar zur politischen Leitlinie erklärt hätten – davon war bislang nichts bekannt.
Neue Nightjets ab 2022
Nun also die Pressekonferenz am Rande eines Treffens der EU-Verkehrsminister am Dienstag. Andreas Scheuer und DB-Chef Richard Lutz sind ganz vorne dabei.
Nachdem die politischen Vertreter ihre politischen Statements aufgesagt haben (Minister Scheuer lässt es sich nicht nehmen, auch in dieser europäischen Veranstaltung den „Deutschlandtakt“ unterzubringen), ist es schließlich an ÖBB-Chef Andreas Matthä, die Katze aus dem Sack zu lassen: 2022 soll sein Nightjet von Wien nach Paris und von Zürich nach Amsterdam fahren, 2023 von Zürich nach Rom, 2024 von Berlin nach Brüssel und Paris, und 2025 von Zürich nach Barcelona.
Wer aufgepasst hat, erkennt darin die Grundzüge des Netzes, das bereits vor Monaten in Form einer bilateralen Kooperation zwischen ÖBB und SBB verkündet wurde. Und auch den Nightjet nach Paris haben die Österreicher bereits angekündigt. Das Rollmaterial stellen die ÖBB, dazu werden neben 13 bereits bestellten 20 zusätzliche Nightjet-Garnituren in Auftrag gegeben.
Was präsentiert wurde, ist ein schrittweiser Ausbau des Nightjet-Netzes. Folgende Züge wollen die ÖBB an den Start bringen.
Dezember 2021
Wien – Paris
Zürich – Amsterdam
Dezember 2022
Zürich – Rom
Dezember 2023
Berlin – Paris
Berlin – Brüssel
Dezember 2024
Zürich – Barcelona
Noch einmal: Dass diese Nachtzüge kommen, beziehungsweise zurückkehren, ist eine großartige Nachricht. Die Aussicht, bald wieder im Schlafwagen nach Barcelona rollen zu können, lässt Nachtzug-Herzen völlig zurecht höher schlagen. Aber die Nachricht ist eben nicht neu. Und es muss die Frage erlaubt sein, was eigentlich genau Deutschland zum Nachtzug der Zukunft beiträgt.
Nun, vermutlich: wenig. Die DB wird möglicherweise eine Lokomotive vor den Nightjet spannen, solange er sich auf deutschen Schienen bewegt und als Verkehrsunternehmen fungieren. Die Lok wird von einem Lokführer der DB bedient. Und vielleicht wird die DB Fahrkarten auf ihrer Website anbieten – aber noch nicht mal eine Integration ins Ticketing der DB wurde am Dienstag angekündigt. Mit anderen Worten: Nicht viel mehr als das, was die DB heute schon längst für die ÖBB-Nachtzüge tut.
Eine doppelte Unverschämtheit
Ein Verdacht drängt sich auf. Will hier ein Minister, der durch Maut-Debakel und andere Verfehlungen in den Seilen hängt, endlich wieder mit positiven Meldungen in der Zeitung stehen? Und will die DB, die bis zuletzt die Relevanz von Nachtzügen negierte, endlich nicht mehr als Europas Spielverderber dastehen?
Geschenkt, möchte man sagen im Freudentaumel darüber, dass die ÖBB dank, naja, tatkräftiger Unterstützung ihren Nightjet in nur vier Jahren von 19 auf 26 Linien aufstocken. Richtig ärgerlich aber wird es, als Bahnchef Lutz in einer der wenigen zugelassenen Fragen darauf angesprochen wird, was denn den plötzlichen Sinneswandel im DB-Konzern in Sachen Nachtzug bewirkt habe.
„Wir waren eigentlich immer für die Nachtzüge“, erwidert Lutz, um dann noch ein „vor allen Dingen dann, wenn sie Kunden nachgefragt haben“ nachzuschieben.
Bum, bum, eine Links-rechts-Kombination für alle, die den Nachtzug je geliebt haben. Nicht nur ist es ein erstaunliches Statement für ein Unternehmen, das noch am 17. September 2020 bekannt gab, die Ausgaben für Nachtzüge stünden in keinem vertretbaren Verhältnis zum Ertrag. Es ist auch die x-te Wiederholung jener Dolchstoßlegende, dass mangelnde Nachfrage die DB zur Einstellung ihrer Nachtzüge zwang. Sie ist klar widerlegt.
Was schwerer wiegt: Mit seiner Aussage verhöhnt Bahnchef Lutz 500 Beschäftigte, die von der Einstellung der CityNightLine betroffen waren. Und genauso verhöhnt er die Reisenden, die den DB-Nachtzügen bis zum bitteren Ende die Treue gehalten haben, den steten Verschlechterungen zum Trotz.
Verpasste Chance
Niemandem wäre ein Zacken aus der Krone gefallen, hätte Richard Lutz stattdessen etwas anderes gesagt. Nämlich, dass die Einstellung der Nachtzüge, ausgerechnet im Jahr eins nach dem Pariser Klimaabkommen, ein Fehler war, ein falsches Signal. Dass man diesen Fehler nun erkannt habe und mit starken europäischen Partnern ein neues, besseres Nachtzug-Netz aufbaue. Und dass man seine Verantwortung als Europas größtes Bahnunternehmen ernst nehme – was natürlich beinhaltet hätte, dass man mehr beiträgt als nur ein paar Loks und ein bisschen Personal.
All das passierte jedoch nicht. So bleibt unter dem Strich ein konzertiertes PR-Event, auf dem viele schöne Worte gemacht, aber wenig Neues verkündet wurde.
Verkehrsminister Scheuer und die DB können sich dennoch auf die Schulter klopfen. Die Presse hat ihren Spin von Deutschland als treibender Kraft hinter den neuen Nachtzügen weitgehend übernommen. Die Chance, sich mit den wirklichen Nachtzug-Fans zu versöhnen, haben sie hingegen verpasst.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf dem Blog „Train Tracks“ und ist bei der Zugpost archiviert.
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