Hallo Zugfans 👋
Das Planen einer Zugreise ist für mich ein wesentlicher Bestandteil des Vergnügens. Ein unverzichtbares Werkzeug dabei ist der European Rail Timetable, im deutschsprachigen Raum auch als Europäisches Kursbuch bekannt. Oder kurz gesagt: die „Bibel“ des Zugreisens.
Der Eurostar nach London trifft darin auf den Bummelzug in Bulgarien, dazwischen liegen ein paar hundert Seiten knisterndes Pergamentpapier, das an ein Telefonbuch oder – ja, tatsächlich – das Buch der Bücher erinnert. Trotz aller Suchmaschinen und Online-Auskünfte: Nichts ersetzt das Gefühl, durch die Karten und Fahrplantabellen zu blättern. Es lädt zum Träumen ein und macht Europa zum riesigen Möglichkeitsraum. Ach, hier kann man auch mit dem Zug hinfahren? Und: Oh, wenn ich heute hier umsteige, könnte ich ja morgen schon dort sein, und übermorgen …
Eigentlich müsste das Cover mit einem Warnhinweis versehen sein: Achtung, kann akutes Reisefieber auslösen!
Ein Stück Geschichte
Wie fast alles bei der Eisenbahn hat auch der European Rail Timetable eine lange Geschichte, die bis ins Jahr 1873 zurückreicht. Damit ist er sogar ein paar Jahre älter als der legendäre Orient-Express, über den im letzten Newsletter zu lesen war.
Aber eigentlich müssen wir noch weiter zurückgehen, genauer gesagt zum 5. Juli 1841. An jenem Montag bietet ein gewisser Thomas Cook, Tischler und Laienprediger aus den englischen Midlands, für 1 Schilling pro Person eine organisierte Zugreise an. Die Route führt von Leicester ins benachbarte Loughborough, eine Strecke von 18 Kilometern. Da der Fahrpreis auch eine Tasse Tee und ein Schinkenbrot sowie das Ausflugsprogramm vor Ort enthält, gilt dies als erste Pauschalreise und die Geburtsstunde des modernen Tourismus.
Kommerzielle Interessen verfolgt Cook zunächst nicht. Als überzeugter Abstinenzler möchte er Arbeitern, die den harten Alltag in den Fabriken des industrialisierten Englands allzuoft nur mit Hilfe von Alkohol ertragen, andere Wege zur Erholung ermöglichen.
Die erste Reise ist ein Erfolg. Eine Blaskapelle spielt in den offenen Wagen, am Streckenrand jubeln Schaulustige den etwa 500 Reisenden zu. Weitere Fahrten folgen, etwa nach Liverpool, Schottland und zur Weltausstellung nach London. Bald darauf führt Cook seine Gruppen auch nach Frankreich, Belgien und Deutschland. Er gründet ein Reiseunternehmen, das spätestens nach dem Einstieg seines geschäftstüchtigen Sohnes als Thomas Cook & Son zum Weltkonzern aufsteigt.
Über viele Jahrzehnte hinweg finden die Reisen ausschließlich über Land und zu Wasser statt. Da liegt es nahe, die Fahrpläne von Zügen und Dampfschiffen verschiedener Anbieter zu sammeln und als Buch herauszugeben. Die Idee ist älter als der Thomas-Cook-Konzern selbst, bereits 1839 erschien in Großbritannien der Bradshaw’s, acht Jahre später mit dem Bradshaw’s Continental Railway Guide auch eine europaweite Ausgabe. Das Problem: Europas Eisenbahnnetz wächst unaufhaltsam, und so nimmt der Bradshaw’s mit seinem Ziel, alle Verbindungen abzudecken, bald ein nicht mehr händelbares Format ein.
Ein junger Mitarbeiter von Thomas Cook hat die Idee, stattdessen ein kuratiertes Fahrplanbuch herauszugeben, das alle wichtigen Verbindungen abdeckt, dabei aber so handlich bleibt, dass man es auf Reisen mitnehmen kann. Die Idee gefällt den Gründern, und so geht im März 1873 die erste Ausgabe der Cook's Continental Time Tables in den Druck.
Zunächst erscheinen die Time Tables viermal im Jahr, ab 1883 monatlich. Und das gilt, mit Ausnahme einer einzigen Unterbrechung im Zweiten Weltkrieg, bis zum heutigen Tag. Der Titel verändert sich im Laufe der Zeit immer wieder leicht – mal fällt das „Continental“ weg, mal kommt ein „European“ dazu. Die Erfolgsformel bleibt jedoch unverändert: 600 Seiten, 50.000 Zugverbindungen, dazu Tipps für schöne Strecken und praktische Informationen zu den Reiseländern.
Unabhängig und digital
Nur einmal, im Sommer 2013, kurz nach dem 140-jährigen Bestehen, sieht es so aus, als könnte es mit der Eisenbahnbibel zu Ende gehen. Thomas Cook, tief in die roten Zahlen gerutscht, trennt sich vom Publikationsgeschäft, das Aus scheint besiegelt. Doch zum Glück findet sich ein kleines Team von Zugenthusiasten und ehemaligen Mitarbeitern des Konzerns, die das Werk als unabhängige Publikation weiterführen.
Seitdem erscheint der European Rail Timetable unter seinem aktuellen Titel, ohne „Thomas Cook“ im Namen. Produziert wird er von gerade einmal sieben Personen, jeder auf eine andere europäische Region spezialisiert, im Städtchen Oundle in Northamptonshire – ironischerweise einer der wenigen Orte in Großbritannien ohne Bahnanschluss.
Inzwischen erscheint die monatliche Ausgabe digital, daneben werden weiterhin einzelne Bände ganz klassisch auf Papier veröffentlicht. Aktuell gibt es vier gedruckte Ausgaben pro Jahr, jeweils im Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Besonders wichtig sind dabei die Winter- und Sommerausgabe, da sie alle Änderungen zum großen und kleinen europäischen Fahrplanwechsel enthalten. Im Frühling und Herbst handelt es sich dagegen eher um kleinere Anpassungen.
Zukunft ungewiss
Warum ich euch das alles erzähle? Nun, zum einen finde ich, dass jeder, der sich einigermaßen leidenschaftlich mit dem Zugreisen beschäftigt, den European Rail Timetable im Regal haben sollte.
Zum anderen: Anfang der Woche erreicht uns die Nachricht, dass sich Eigentümer und Chefredakteur John Potter anlässlich seines 70. Geburtstages zurückziehen wird und sein Unternehmen European Rail Timetable Ltd. verkauft. Kaum zu glauben, aber wahr: Potter ist erst der sechste Herausgeber seit dem Start des Kursbuchs im Viktorianischen Zeitalter. Anlässlich des anstehenden Verkaufs sagte er:
„Ich bin stolz darauf, dass ich den legendären European Rail Timetable von Thomas Cook übernehmen konnte, als es vor etwa zehn Jahren so aussah, als würde die Produktion eingestellt werden. Ich bin allen Mitarbeitern und Kunden, die seither dazu beigetragen haben, ihn am Leben zu erhalten, unendlich dankbar. Es ist nun an der Zeit für mich, zurückzutreten und jemand anderem die Möglichkeit zu geben, unsere fantastische Produktpalette weiterzuführen.“
Wer dieser jemand ist, und ob sich überhaupt jemand findet, steht noch in den Sternen. Also, sollte jemand von euch zufällig Lust haben, eines der großartigsten und traditionsreichsten Produkte im Eisenbahnbereich weiterzuführen – Kaufinteressenten werden gebeten, sich an Knightsbridge Commercial in Bolton zu wenden.
Und für diejenigen, die nicht ganz so viel Geld übrig haben: Die gedruckte Sommerausgabe 2024 kann ab sofort für umgerechnet etwa 30 € vorbestellt werden. Den European Rail Timetable gibt es auch in ausgewählten Buchhandlungen sowie auf Amazon.
Zugpost intern
Im Umbruch, oder besser gesagt im Relaunch, befindet sich auch gerade die Website der Zugpost, was der Grund dafür ist, warum dort aktuell keine neuen Artikel veröffentlicht werden.
Das Ganze dauert mal wieder viel länger, als ich es mir erhofft hatte. Sorry dafür. Als kleinen Ausgleich gibt es dafür etwas längere (und hoffentlich interessante) Geschichten im Newsletter zu lesen, wie heute über den European Rail Timetable oder in den vergangenen Ausgaben über den Orient-Express und Eisenbahnreisen im östlichen Europa.
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Kurzstrecke 💬
Was gibt es Neues auf Europas Gleisen? Worüber spricht die Zugreise-Community? Das Wichtigste in der Kurzstrecke!
Neuer Interrail-Pass für Erasmus+
Bei Interrail gibt es ein neues Passangebot für Studierende, die am Austauschprogramm Erasmus+ teilnehmen. Es handelt sich um Globalpässe mit 4 oder 6 Reisetagen, die – und das ist das Besondere – über einen Zeitraum von 6 Monaten genutzt werden können. Damit erhalten Studierende die Möglichkeit, für die Anreise ins Auslandssemester sowie die Rückreise nach Hause denselben Interrail-Pass zu nutzen. Wie gewohnt gelten die Pässe an zwei Reisetagen auch im Wohnsitzland. Bis einschließlich 27 Jahre betragen die Preise in der 2. Klasse 212 € für 4 Reisetage und 301 € für 6 Reisetage.
Kein Nachtzug nach Spanien?
Bis Mitte des kommenden Jahres sollten eigentlich ein Nightjet von ÖBB und SBB sowie ein Nachtzug von European Sleeper von Zürich bzw. Amsterdam nach Barcelona starten. Wie die katalanische Tageszeitung La Vanguardia berichtet, scheint daraus jedoch vorerst nichts zu werden. Das Problem liegt größtenteils in Frankreich, durch das die geplanten Nachtzug-Routen verlaufen. Bauarbeiten, nicht verfügbare Trassen und bürokratische Hindernisse erschweren die Planung der nächtlichen Zugfahrten. Entsprechend frustriert von den französischen Behörden äußerte sich Elmar van Buuren, Gründer von European Sleeper, in einem Interview mit dem niederländischen Radiosender BNR.
Kostenlose Fahrradmitnahme in Estland
Die Estnische Bahn hat vom 1. April bis 31. Oktober die Fahrradmitnahme in vielen Zügen kostenlos gemacht. Die Regelung gilt für alle elektrischen Triebzüge, die vor allem in der Region Tallinn zum Einsatz kommen. Darüber hinaus werden weitere Flächen zur Fahrradmitnahme freigegeben. Pro vierteiligem Elektrotriebzug stehen nun bis zu 20 Stellplätze zur Verfügung. Auf Fernstrecken, die mit Dieselzügen bedient werden, etwa von Tallinn nach Tartu, bleibt die Fahrradmitnahme dagegen kostenpflichtig.
Mehr Züge auf der Tendabahn
Das Zugangebot auf der italienisch-französischen Tendabahn wurde ausgebaut. Seit dem 2. April verkehrt auf dem Streckenast zwischen Cuneo und Ventimiglia ein viertes Zugpaar. Die Tendabahn ist eine der faszinierendsten Bergstrecken Europas. Auf 100 Kilometern vom Piemont zum ligurischen Meer überquert sie spektakulär die Seealpen und passiert dabei zweimal die Grenze zwischen Italien und Frankreich. Neben dem Streckenteil nach Ventimiglia, wo Anschluss nach Genua besteht, gibt es auch einen westlichen Streckenast nach Nizza. Zuletzt war es durch Streiks und witterungsbedingte Probleme immer wieder zu Zugausfällen auf der Tendabahn gekommen.
Neue Railjets über den Brenner
Am Montag, 8. April, gingen die ersten Railjets der neuen Generation in den Fahrgastbetrieb zwischen München und Bologna. Über den Jahresverlauf stellen die ÖBB den Zugverkehr zwischen München und Oberitalien schrittweise auf die Neufahrzeuge um. Die Zeit der „Brenner-ECs“ mit klassischen Reisezugwagen, bis vor Kurzem auch noch mit vollwertigem Speisewagen, geht damit zu Ende. Aktuell sind zwei der fünf täglichen Verbindungen auf Railjet-Züge umgestellt.
Ende der Linie 🚉
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Sebastian
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