Spione und Literaten, Filmstars und Könige – sie alle reisten einst im wohl legendärsten Nachtzug Europas. Der Orient-Express war mehr als nur ein Verkehrsmittel, er war ein Symbol für Abenteuer, Eleganz und das goldene Zeitalter des Reisens. Schon zu seinen Hochzeiten beflügelte er die Fantasie und ließ von einem besseren Leben träumen. Das gilt erst recht heute, da er nur noch in der Erinnerung existiert – oder als Museumszug für sündhaft teure Schienenkreuzfahrten.

Der Orient-Express mag der berühmteste aller Nachtzüge sein, der älteste ist er aber nicht. Der Belgier Georges Nagelmackers, Eisenbahnpionier und Gründer der Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL), hatte Europa bereits über ein Jahrzehnt lang mit einem Netz aus Schlafwagen-Verbindungen überzogen, als er am 4. Oktober 1883 am heutigen Pariser Gare de l’Est den ersten Orient-Express auf die Reise nach Istanbul schickte.

Wobei Konstantinopel, wie Istanbul damals hieß, auf dem Zuglaufschild zunächst irreführend war. Ein durchgängiges Gleis bis an den Bosporus gab es noch nicht, so dass die Zugfahrt in den ersten Jahren bereits an der rumänisch-bulgarischen Grenze endete. Von dort aus setzten die Reisenden mit einem Donauschiff ihre Reise fort. Erst mit der Fertigstellung der Bahnstrecke nach Dimitrovgrad und Niš im Jahr 1888 verkehrte der Orient-Express durchgängig bis Istanbul. Ab 1890 war sein Ziel der legendäre Bahnhof Sirkeci.

Route des Orient-Express 1883–1914

Damit war die klassische Route des Orient-Express geboren: von Paris nach Istanbul, über Straßburg, München, Wien, Budapest, Belgrad und Sofia. Die Fahrt dauerte drei Nächte und wurde zunächst zweimal pro Woche angeboten. Außerdem gab es einen Flügelzug nach Bukarest, der in Budapest vom Stammzug getrennt wurde.

Luxus und neue Wege

Der Orient-Express galt nicht nur als „Luxuszug“, sondern war so auch ganz offiziell im Fahrplan vermerkt. Die Züge bestanden ausschließlich aus mit Teakholz vertäfelten Schlaf- und Salonwagen der 1. Klasse sowie einem Speisewagen. Das Essen soll so exquisit gewesen sein, dass mancher Gourmet nur dafür ein Stück von Paris aus mitfuhr. Auch sonst war die Ausstattung erstklassig. Es gab fließend Wasser, Heizung und elektrisches Licht – Annehmlichkeiten, die damals noch längst nicht in jeder Wohnung Standard waren. Ganz klar: Der Orient-Express war ein Zug der Reichen und Schönen, von dem Normalsterbliche nur träumen konnten. Dies hat sicher zum Legendenstatus beigetragen.

Nach der ersten Blütezeit erlebte der Orient-Express mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Phase voller Unterbrechungen und Routenänderungen. Zunächst von 1914 bis 1919 eingestellt, wurde eine neue Route geplant, um deutsches Gebiet zu umfahren – der Simplon-Orient-Express. Dieser verkehrte durch den Schweizer Simplontunnel nach Italien und erreichte Belgrad über Mailand, Triest und Zagreb.

Route des Orient-Express 1921–1939

Bald darauf kehrte auch der klassische Orient-Express über München und Wien zurück, spielte mit drei Fahrten pro Woche jedoch nur noch eine Nebenrolle, während der nun täglich verkehrende Simplon-Orient-Express zum neuen Stammzug zwischen Paris und Istanbul wurde. Anfang der 1930er Jahre kam noch ein weiterer Zuglauf hinzu, der Arlberg-Orient-Express über Innsbruck, der ebenfalls dreimal wöchentlich verkehrte und sich mit den Wagen über Süddeutschland abwechselte.

Die goldene Ära

Die Zwischenkriegszeit gilt als die goldene Ära des Orient-Express und des Nachtzugreisens allgemein. Auf dem Weg nach Südosteuropa konnten Reisende zwischen drei Varianten des Orient-Express wählen – wenn man so will, das klassische „Line-up“ des komplexen Zugsystems.

Simplon-Orient-Express. Nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt, um Deutschland, Österreich und Ungarn zu umgehen, war der Simplon-Orient-Express von 1919 bis 1962 der Hauptzug des Orient-Express-Systems. An seinen Fahrzeiten richteten sich die Fahrpläne von halb Europa aus. Es war der Simplon-Orient-Express, in dem Agatha Christie mitfuhr und später ihre Erlebnisse im Buch verarbeitete. Er wird daher oft synonym als Orient-Express bezeichnet. Eine Zeit lang führte er außerdem Kurswagen nach Athen.

Hisorisches Reiseposter des Simplon-Orient-Express

Orient-Express. Nachdem sich Europa – zumindest vorübergehend – politisch stabilisiert hatte, kehrte 1920 erstmalig und mit dem Ende der Ruhrblockade 1924 dauerhaft auch die angestammte Route über Straßburg, München und Wien zurück. Istanbul wurde jedoch nur noch über einen Kurswagen angebunden, Hauptziele des „Orient-Express“ genannten Zuglaufs waren nun Budapest und Bukarest.

Arlberg-Orient-Express. Die zunächst als Umleitung eingeführte Route über die Arlbergbahn wurde ab 1931 als eigenständiger Zuglauf vermarktet und bestand bis 1962. Dank seiner Fahrplanlage fand die spektakuläre Alpendurchquerung über Tag statt, wodurch den Reisenden ein besonderer optischer Leckerbissen geboten wurde. Auch der Arlberg-Orient-Express endete nicht in Istanbul, sondern in Bukarest, und hatte zeitweise einen Zugteil bis Athen dabei.

Ergänzt wurden diese Stammzüge durch ein Geflecht aus Nebenästen und Kurswagenläufen, die große Teile Europas an den Orient-Express anbanden. So gab es seit den Anfangstagen bereits Wagen von Oostende und Calais, wo Übergang von den Kanalfähren aus England bestand, später kamen auch Kurse aus Berlin und Prag hinzu.

Niedergang

Der Zweite Weltkrieg brachte das System der Orient-Express-Züge erneut zum Erliegen. Nach 1945 wurde der Verkehr zwar schrittweise wieder aufgenommen, aber es begann der schleichende Niedergang des Orient-Express. Die Blockbildung in Europa machte es immer schwerer, die Bahnen von Ost und West an einen Tisch zu bekommen. Zudem wuchs das Flugzeug als übermächtiger Konkurrent heran.

Und auch die Qualität nahm immer weiter ab. Zunehmend wurde der Orient-Express mit gewöhnlichen Wagen der beteiligten Bahngesellschaften gefahren, ein „Luxuszug“ war er bald nicht mehr. 1962 wurde der Simplon-Orient-Express eingestellt und kurzzeitig in den langsameren Direct-Orient überführt. Dieser fuhr 1977 zum letzten Mal als planmäßiger Personenzug von Paris nach Istanbul. Für viele markiert das das Ende des Orient-Express.

Ganz vorbei war es zumindest mit dem Begriff aber noch nicht, denn als „Orient-Express“ bezeichnet wurden weiterhin verschiedene Zugverbindungen auf kürzeren Abschnitten zwischen Paris, Budapest und Bukarest. Zuletzt war es ein Nachtzug der ÖBB von Straßburg nach Wien, der im Dezember 2009 eingestellt wurde. Damit verschwand der glanzvolle Zugname nach 126 Jahren aus den Kursbüchern und von den Fahrplänen Europas.


Orient-Express heute

Der Orient-Express ist Geschichte, aber die Schienenstränge, auf denen diese Geschichte geschrieben wurde, ziehen sich weiterhin durch Europa. Auf einigen Abschnitten gibt es heute bemerkenswerte Züge, in denen es sich lohnt, auf Spurensuche zu gehen.

Hier sind fünf davon:

1. Nachtzug Paris–Wien

ÖBB Nightjet nach Paris am Bahnsteig
Seit 2021 verbindet der Nightjet wieder Wien mit Paris. Foto: ÖBB / Marek Knopp

Seit Dezember 2021 lässt sich mit dem ÖBB Nightjet zwischen Paris und Wien wieder ein großes Stück Orient-Express erfahren. Der Zug folgt weitgehend der Originalstrecke über Straßburg, Karlsruhe und München. Mit dem Startpunkt Paris (statt Straßburg) ist die Fahrt sogar länger als das, was 2009 zuletzt als „Orient-Express“ bezeichnet wurde.

Fahrzeit:

14 Stunden, fährt täglich

Komfort an Bord:

Sitz-, Schlaf- und Liegewagen

2. Nachtzug Wien–Bukarest

Nur eine weitere Zugfahrt mit dem Nachtzug „Dacia“ der rumänischen Bahn ist Bukarest entfernt. Damit lässt sich der Flügel Paris–Bukarest des klassischen Orient-Express heute mit nur einem Umstieg und in zwei Nächten zurücklegen. Nicht schlecht für eine Strecke von 2500 Kilometern. Und ein Tag Sightseeing in Wien ist auch noch drin.

Fahrzeit:
18 Stunden, fährt täglich

Komfort an Bord:
Schlafwagen, Liegewagen, Sitzwagen

3. Eurocity „Transalpin“

Das Herzstück des Arlberg-Orient-Express, die Fahrt über die spektakuläre Arlbergbahn, lässt sich heute aufs Vorzüglichste im schweizerisch-österreichischen Eurocity „Transalpin“ zwischen Zürich und Graz genießen. Besonderes Highlight: Neben einem Speisewagen führt der Zug auch einen Panoramawagen. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten, denn über diesen klasse Zug wird es bald mehr in der Zugpost zu lesen geben.

Fahrzeit:
9,5 Stunden, fährt täglich

Komfort an Bord:
Sitzwagen, Panoramawagen, Speisewagen

4. Optima Express

Am offenen Zugfenster durch die Berge
Unterwegs im Optima Express. Foto: Dining Car auf Flickr (CC BY 2.0)

Wenn es einen Zug gibt, der auch heute noch das Motto „Orient trifft Okzident“ verkörpert, ist es der private Autoreisezug Optima Express von Villach nach Edirne im Nordwesten der Türkei. Mit seiner Route über Belgrad, Niš und Sofia folgt er der Originalstrecke des Orient-Express auf dem Balkan. Und auch bei der Fahrtdauer von zwei Nächten kommt echtes Nostalgie-Feeling auf. Abstriche gibt es dagegen beim Komfort: Der Optima Express führt nur einfache Liegewagen. Für das leibliche Wohl während der langen Fahrt sorgt ein slowenischer Speisewagen.

Fahrzeit:
32 Stunden, fährt wöchentlich von Mai bis November

Komfort an Bord:
Liegewagen, Speisewagen, Autotransport

5. Nachtzug Sofia–Istanbul

Direkt nach Istanbul, genauer gesagt zum Bahnhof Halkalı, führt der tägliche Nachtzug von Sofia. An Bord sind modern ausgestattete Liege- und Schlafwagen der türkischen Bahn. In der Sommersaison ist sogar ein durchgängiger Liegewagen ab Bukarest mit am Zug. Einziges Manko: Während der nächtlichen Passkontrolle an der bulgarisch-türkischen Grenze müssen alle Reisenden den Zug verlassen.

Fahrzeit:
13 Stunden, fährt täglich

Komfort an Bord:
Schlafwagen, Liegewagen

Und außerdem…

Seit 1982 bietet die Firma Belmond den Venice Simplon-Orient-Express an, in dem man mit dem nötigen Kleingeld in historischen Wagen der CIWL den Luxus vergangener Zeiten erleben kann. Es handelt sich dabei um keine planmäßigen Zugläufe, sondern um rein touristische Schienenkreuzfahrten. Mit dem originalen Orient-Express hat das nur bedingt zu tun.


Lesen und Schauen

Der Orient-Express hat nicht nur Adelige und Agenten in seinen Bann gezogen, sondern auch die Phantasie von Künstlerinnen und Kreativen beflügelt. So fand der Zug immer wieder Einzug in Literatur und Film. Hier eine kleine Auswahl für die Reise vom heimischen Sofa.

Mord im Orient-Express

Cover Mord im Orient-Express

Natürlich darf der Klassiker nicht fehlen. Agatha Christie lässt in ihrem berühmten Mord im Orient-Express den Meisterdetektiv Hercule Poirot – übrigens ein Belgier wie Nagelmackers – in den Schlaf- und Salonwagen des im Schnee feststeckenden Simplon-Orient-Express ermitteln. Bis heute ein Meilenstein des Krimi-Genres, in dem es natürlich viele fiktionale Elemente gibt, betriebliche Details aber durchaus korrekt beschrieben werden. Der Roman wurde 1974 erstmals verfilmt, und das recht sehenswert mit Albert Finney in der Hauptrolle. Das Remake von 2017 ist dagegen trotz Starbesetzung eher eine Enttäuschung.

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Agatha Christie: Mord im Orient-Express (Originaltitel: Murder on the Orient Express), auf Englisch erschienen 1934

James Bond: Liebesgrüße aus Moskau

Filmplakat James Bond 007 – Liebesgrüße aus Moskau

Züge, insbesondere Nachtzüge, spielen bei James Bond immer wieder eine wichtige Rolle. In Liebesgrüße aus Moskau lässt Ian Fleming seinen Helden in Istanbul in den Orient-Express steigen. Genauer gesagt handelt es sich auch hier um den Simplon-Orient-Express, denn ausgerechnet im Simplontunnel soll Bond von seinen Widersachern aus dem Weg geräumt werden. In der Verfilmung mit Sean Connery, bis heute eine der besten der James-Bond-Reihe, wird der Showdown allerdings auf den Streckenabschnitt im damaligen Jugoslawien verlegt.

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Ian Fleming: Liebesgrüße aus Moskau (Originaltitel: From Russia with Love), auf Englisch erschienen 1957

Monsieur Orient-Express

Cover Monsieur Orient-Express

Georges Nagelmackers starb 1905 und erlebte die goldene Ära seines Orient-Express nicht mehr. Umso erstaunlicher, dass es bis 2022 dauerte, ehe die erste Biografie über ihn erschien. Autor Gerhard J. Rekel hat sich dieser Aufgabe gestellt und das bewegte Leben des Nachtzug-Pioniers in akribischer Detailarbeit nachgezeichnet. Sein Buch Monsieur Orient-Express: Wie es Georges Nagelmackers gelang, Welten zu verbinden ist aber keineswegs trocken geraten, sondern liest sich wie ein packender Krimi. „Eine atemberaubende Geschichte, die einer Agatha Christie würdig wäre – nur ohne Mord“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. „Monsieur Orient-Express“ wurde 2023 mit dem Buch-Award der Internationalen Tourismus-Börse Berlin ausgezeichnet.

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Gerhard J. Rekel: Monsieur Orient-Express: Wie es Georges Nagelmackers gelang, Welten zu verbinden, 2022