Ein Raunen geht durch den Speisewagen. Schnee im Juni? Das ist selbst in Skandinavien kein Alltag. Wer auf der richtigen Seite sitzt, drückt sich die Nase am Fenster platt. Andere stehen auf, um wenigstens ein Foto zu machen.

Man soll mit Superlativen ja vorsichtig sein. Aber die Bergenbahn, die Norwegens größte Städte Oslo und Bergen miteinander verbindet, ist keine gewöhnliche Strecke. Sie beginnt am Meer und endet am Meer – und führt dazwischen einmal über die größte Hochebene Europas. Ganz oben kein Baum, kein Strauch, dafür Gletscher und blaues Eis. Selbst im Hochsommer.

Karte mit Verlauf der Bergenbahn

Sanfter Auftakt

Von all dem ahne ich allerdings noch nichts, als ich wenige Stunden zuvor in Oslo mit T-Shirt und Sonnenbrille am Wasser sitze. Vor mir funkelt das futuristische Opernhaus in der Nachmittagssonne. Ich bin mit dem Zug aus Göteborg gekommen und habe eine kleine Mittagspause in der Stadt eingelegt.

Zum Bahnhof sind es nur ein paar Schritte. Am Bahnsteig steht bereits die Lok mit ihrer langen Schlange edelgrüner Wagen. Bergensbanen ist darauf zu lesen, der norwegische Name der Strecke. Die Bergenbahn ist die letzte große Fernverbindung, die noch von Vy betrieben wird – dem, was nach der Zerschlagung von der einstigen Staatsbahn NSB übrig blieb.

Wagen eines Zuges auf der Bergenbahn
Die Wagen der Bergenbahn tragen ein edles Dunkelgrün

Der Auftakt der Fahrt ist unscheinbar. Es geht durch Osloer Vororte, dann in einer weiten Schleife durch Drammen, schließlich tauchen wir ein ins ländliche Herz Norwegens: saftige Wiesen, Wälder, Flüsse, sanfte Hügel. Lieblich und hübsch ist das. Aber fast könnte man sich fragen: Das soll nun diese berühmte Bergenbahn sein?

Geduld! Wie jedes gute Epos verschießt die Bergenbahn ihr Pulver nicht gleich, sondern führt behutsam auf ihren Höhepunkt zu. Fast zwei Stunden fahren wir nun das Hallingdal hinauf. Mit jedem Meter wird die Landschaft schroffer. In Geilo, dem bekannten Skiort auf halber Strecke, haben wir bereits 800 Höhenmeter erreicht. Doch die eigentliche Kletterei beginnt erst jetzt.

Ein doppeltes Wunder

Wenn es so etwas gibt wie eine Liste der sieben Eisenbahnwunder, müsste die Bergenbahn gleich doppelt darauf stehen. Einmal, weil sie durch eine so beeindruckende Landschaft führt. Und dann, weil ihr Bau selbst ein kleines Wunder war.

Aussicht auf einen See mit grünen Wiesen und Bäumen
Die Fahrt auf der Bergenbahn beginnt lieblich
Ein reißender Fluss mit Stromschnellen
Langsam wird die Landschaft wilder …

Als die Planungen begannen, konnte man von Bergen in 24 Stunden mit dem Dampfschiff nach England fahren. Eine Reise nach Oslo dagegen war beschwerlich und dauerte mehrere Tage. Bergen und Norwegen – das waren fast zwei verschiedene Welten.

Rund 15.000 Arbeiter schufteten anderthalb Jahrzehnte, ehe die Bergenbahn 1909 feierlich eröffnet wurde. Die nackten Zahlen: knapp 500 Kilometer Strecke, mehr als 300 Brücken, rund 200 Tunnel. Die Strecke führt von Meereshöhe auf knapp 1300 Meter – und wieder hinab. Und das alles im rauen nordischen Klima mit Wind, strengem Frost und gewaltigen Schneemassen.

Sitze im Zug der Bergenbahn
Die Züge von Oslo nach Bergen sind reservierungspflichtig

Zunächst sollten italienische Arbeiter dieses Kunststück vollbringen, sie galten damals als die besten Eisenbahnbaumeister. Doch das Wetter machte ihnen zu schaffen. Am Ende waren es Norweger und Schweden, die die Strecke in den Fels trieben: die sogenannten Rallar. Für sie legte man eigens einen Versorgungsweg vom Fjord ins unbewohnte Bergland an – den Rallarvegen, heute eine der schönsten Fahrradrouten des Landes.

Auf großer Tour

Inzwischen habe ich meinen Platz verlassen und bin in den Speisewagen gewechselt. Alle Fernzüge in Norwegen bieten ein rustikales gastronomisches Angebot, und natürlich darf Pølse dabei nicht fehlen. Die Hotdog-Wurst gibt es wahlweise im Brötchen oder mit einem Klacks Kartoffelpüree.

Mindestens genauso norwegisch ist es jedoch, den Rucksack mit einer Thermoskanne Kaffee und der kunterbunten Keksschokolade Kvikklunsj zu packen, wenn es auf Tur geht. Und eine große Tour – das ist die Bergenbahn ohne Zweifel.

Prellbock am Bahnhof Ustaoset mit See im Hintergrund
Und dann ist plötzlich Winter …
Aussicht auf einen schneebedeckten Bergsee
Die Hardangervidda ist Europas größte Hochebene

Wir haben den Rand der Hardangervidda erreicht. Das von der Eiszeit geformte Hochplateau ist so groß, dass man Berlin neunmal darauf unterbringen könnte. Zuhause sind hier jedoch nur ein paar tausend Rentiere.

Brach sich das Licht eben noch zwischen zarten Birkenblättern, wird es nun von klaren Bergseen zurückgeworfen. Auf dem Wasser treiben Eisschollen, die Gipfel drumherum liegen unter einem dicken Schneepanzer. Das Eis schimmert bläulich, geformt von Druck und Wind, der hier oben einen langen Winter wehte.

Weites Schneefeld mit einem Zaun
Ein Gletscher taucht vor dem Fenster auf

Der Zug schlängelt sich zwischen zwei Nationalparks hindurch. Spätestens jetzt sollte man unbedingt in Fahrtrichtung links sitzen – dort taucht bald der mächtige Gletscher Hardangerjøkul auf. Typisch für Nordeuropa ist er nicht steil, dafür aber so unwirtlich und wild, dass Amundsen und Scott ihn einst als Trainingslager für ihr Rennen zum Südpol nutzten.

Höhepunkt Finse

Aufs Handy schaut nun niemand mehr. Auffällig: Es sind längst nicht nur ausländische Touristen, die gebannt aus dem Fenster sehen. Norwegen, aufgrund seiner Topografie ein Land der Vielflieger, entdeckt die Eisenbahn wieder – und damit auch ein bisschen sich selbst. Togferie, also Zugurlaub, nennen sie das hier.

Wir erreichen Finse, mit 1222 Metern über dem Meer der höchstgelegene Bahnhof Norwegens. Es ist einer dieser Sehnsuchtsorte für Zugreisende: Keine Straße führt hierher, allein die Bahn. Einen richtigen Ort gibt es nicht – nur ein einsames Hotel und eine Berghütte, die im Winter ausschließlich mit Skiern oder Schneeschuhen erreichbar ist.

Rotes Holzaus in einer Schneelandschaft
Finse ist kaum mehr als eine Handvoll Hütten
Zug der Bergenbahn am Bahnsteig in Myrdal
Zugporträt am Bahnhof Myrdal

Direkt nach dem Bahnhof taucht der Zug in den langen Finsetunnel ein, in dem sich der Scheitelpunkt der Strecke befindet. Der Tunnel ist vergleichsweise neu: Über die Jahrzehnte wurde die Trasse auf der Hardangervidda immer weiter verkürzt, um den größten Schneemassen aus dem Weg zu gehen. Seitdem läuft der Betrieb auf der Bergenbahn meist reibungslos.

Es beginnt der lange Abstieg Richtung Meer. Auf 867 Höhenmetern erreichen wir Myrdal. Für viele Touristen ist hier Schluss: Sie steigen um in die Flåmbahn, die sich in einer Stunde Fahrzeit an den Fjord hinabwindet. Keine Frage, das ist spektakulär – aber mit stolzen Preisen (Interrail gilt hier nicht) und musikuntermalten Fotostopps auch ein bisschen Zirkus.

Intermezzo in Voss

Ich bleibe sitzen. Ein bisschen fühlt es sich nun an wie eine Fahrt in den Frühling. Der Schnee zieht sich zurück, das erste Grün zeigt sich in den zunächst vereinzelt, dann dichter stehenden Bäumen.

Als wir Voss erreichen, ist es spät geworden – kurz nach 22 Uhr, aber noch lange nicht dunkel. Da Bergen selbst nach norwegischen Maßstäben teuer ist, habe ich mich entschieden, hier auszusteigen und einen Übernachtungsstopp einzulegen.

Eingang zum Bahnhof Voss
Wie üblich in Norwegen ist der Bahnhof Voss top gepflegt

Voss, idyllisch gelegen am See Vangsvatnet, gilt als Hauptstadt der Adrenalin-Junkies. Auf Skiern und Mountainbikes stürzen sie sich die Berge hinab oder ringen im Schlauchboot mit den Stromschnellen. Auf dem Weg zu meiner Unterkunft, etwas abseits am Hang, lerne ich dagegen einen stillen, ländlichen Ort kennen.

Es ist eine dieser magischen Sommernächte, wie es sie nur in Nordeuropa gibt. Vor dem Schlafengehen blicke ich noch einmal aus dem Fenster hinab auf den See, der still unter den weichen Farben des Mitternachtshimmels liegt. Kaum zu glauben, dass ich eben noch durch Eis und Schnee fuhr.

Finale in Bergen

Am nächsten Tag steige ich in einen der Regionalzüge, die im letzten Teil der Bergenbahn zusätzlich zu den Fernzügen aus Oslo verkehren. Die sogenannte Vossebanen wurde bereits 1883 als Lokalbahn in der damals üblichen Schmalspur eröffnet. Vier Jahre dauerte es, sie umzuspuren und mit der Strecke aus der Hauptstadt zu verbinden.

Rote Holzhäuser und Aussicht auf den See in Voss
Zurück im nordischen Sommer

Eine Reihe von Tunneln sorgt dafür, dass keine großen Höhenunterschiede mehr zu überwinden sind. Umso eindrucksvoller sind die Ausblicke dazwischen: immer wieder kristallklares Wasser vor dem Fenster, dazu steil aufragende Felswände – ein Stück Fjordnorwegen wie aus dem Bilderbuch.

Schließlich rollen wir in die Bahnhofshalle von Bergen ein. Ein toller Bahnhof, vielleicht Norwegens schönster. Mein Gepäck verschwindet im Schließfach, der Hafen mit seinen bunten Häuschen ist nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Wieder strahlt die Sonne, wieder trage ich ein T-Shirt. Was für eine Reise!

Warteraum im Bahnhof Bergen
Angekommen am Bahnhof von Bergen

Epilog: Nur wenige Stunden später sollte ich die wilde Fahrt auf der Bergenbahn schon wieder in Angriff nehmen – diesmal allerdings im Schlafwagen. Das, und überhaupt das spannende norwegische Nachtzugnetz, ist eine andere Geschichte, die ich euch vielleicht ein andermal in der Zugpost erzähle.


Praktische Tipps

Anreise

Eine Zugfahrt nach Oslo führt über Hamburg, Kopenhagen und Göteborg und dauert mindestens einen ganzen Tag. Alternativ lässt sich Oslo auch mit der Fähre erreichen. Die Verbindung von Kiel nach Oslo ist bequem, aber teuer. Günstiger sind die Fähren aus Frederikshavn und Kopenhagen in Dänemark.

Von Bergen gibt es eine Fährverbindung nach Stavanger. Dort besteht wieder Anschluss ans Schienennetz – die ebenfalls lohnenswerte Sørlandsbahn, die entlang der Südküste nach Oslo führt. Bergenbahn und Sørlandsbahn lassen sich so gut zu einer kleinen Rundreise kombinieren.

Züge und Tickets

Auf der Bergenbahn verkehren Züge des Anbieters Vy. Die Fahrt von Oslo nach Bergen dauert rund sieben Stunden. Pro Richtung gibt es sechs durchgehende Züge am Tag, darunter ein Nachtzug mit Schlaf- und Liegewagen. Auf dem Abschnitt zwischen Myrdal und Bergen fahren zusätzlich Regionalzüge.

Tickets gibt es bei Entur, der anbieterübergreifenden Plattform für den öffentlichen Verkehr in Norwegen. Interrail ist auf der Bergenbahn gültig, allerdings ist eine Sitzplatzreservierung erforderlich (ca. 4,50 Euro, in der 1. Klasse kostenlos).

Reisezeit

Die Bergenbahn ist zu jeder Jahreszeit ein Genuss. Meine persönlichen Tipps sind der Frühsommer mit seinen starken Kontrasten, der farbenfrohe September oder ein klarer Wintertag im Februar mit viel Schnee und Sonne.