Bollnäs?

Ich reibe mir verwundert die Augen. Eigentlich sollten wir längst in Jämtland sein. Berge, Schnee, ein schwedischer Wintertraum. Stattdessen: Ein Kleinstadtbahnhof, irgendwo auf dem platten Land.

Ob ich denn noch nichts wüsste? Mein Abteilgenosse zieht den Reißverschluss von seinem Koffer zu und schaut mich halb fragend, halb mitleidig an. Er war erst weit nach Mitternacht in Stockholm zugestiegen, ich hatte mein Bett im Schlafwagen schon in Göteborg bezogen.

Nein, woher auch.

Die Lok ist kaputt, erklärt er mir. Eine Ersatzlok sei bestellt, aber das könne noch Stunden dauern. Wenn überhaupt! Er wolle sich mit seinen Kumpels anders durchschlagen. Ein Taxi vielleicht. Viel Glück, wünscht er mir noch, und wirft die Abteiltür hinter sich zu. Rums.

Bollnäs also. 13.000 Einwohner, eine Trabrennbahn, drei Stunden von Stockholm. Sagt Google. Weit gekommen sind wir also nicht. Na ja, erstmal abwarten. Ich drehe mich nochmal um.

Viel Glück, wünscht er mir noch, und wirft die Abteiltür zu

Ein Klopfen weckt mich aus dem Dämmerschlaf. Die Schaffnerin. Es tue ihr furchtbar leid, die Lok sei unterwegs, das werde aber noch eine Weile dauern. Schweden ist groß, da könne man nichts machen.

Ob ich nicht doch lieber mit dem Taxi..?

Nein, nein, winke ich ab. Ich habe es nicht eilig. Ich bin auf einem sechswöchigen Trip durch Nordeuropa, da kommt es auf ein paar Stunden nicht an.

Gut, sagt sie. Ich könne ruhig aussteigen und im Bahnhof was zu Essen kaufen, dort sei es auch warm. Ich werde schon mitkriegen, wenn es weitergeht, lacht sie, und geht zum nächsten Abteil.

Nachtzug am Bahnsteig in Bollnäs
Gestrandet in Bollnäs, drei Stunden von Stockholm

Stimmt, frisch ist es. Keine 15 Grad zeigt das kleine Thermometer im Abteil. Keine Lok, keine Heizung, so heißt es wohl bei der schwedischen Bahn. Ich ziehe mir eine zweite Decke vom oberen Bett hinunter.

Irgendwann will ich dann doch wissen, was draußen los ist, und tapse vorsichtig auf den Bahnsteig. Aus einem Zug steigen, in dem man noch seine Sachen liegen hat, fühlt sich immer ein bisschen riskant an. Auch wenn man die Abfahrtszeit zehnmal gecheckt hat.

Aber dieser Zug fährt erstmal nirgendwohin. Schwarz und blau sind die Wagen, schon etwas in die Jahre gekommen, aber gemütlich. Unser Ziel: Duved, ein kleiner Ort im Fjäll, unweit der norwegischen Grenze. Eigentlich wollte ich bis zum Ende liegen bleiben und dann ein Stück nach Östersund zurückfahren, wo in einer Jugendherberge ein Bett auf mich wartet. Ob daraus noch was wird? Mal sehen. Es ist halb zehn, eigentlich sollten wir längst da sein.

Das Thermometer fällt

Der Bahnhofskiosk macht den Umsatz des Jahres. Der halbe Zug hat sich versammelt – frühstücken, Handy laden, beratschlagen. Einige tun sich zusammen, organisieren Fahrgemeinschaften. Schickt die schwedische Bahn vielleicht einen Bus?

Die Lage ist unklar.

Erst recht, wenn man kein Schwedisch versteht und keine Lust hat, sich ständig auf Englisch durchzufragen. Na ja, wenn es was Wichtiges gibt, wird es mich schon erreichen, denke ich mir, und beiße in eine Zimtschnecke.

Zurück im Zug packe ich mich dick ein mit meinen beiden Decken und schaue dem Thermometer zu. 13 Grad, 12 Grad, 11 Grad, … Oha, ob das gut geht? Draußen hat es knapp zweistellige Minusgrade.

Thermometer ziegt 14 Grad
Das Thermometer fällt und fällt ...

Plötzlich Getrappel im Gang. Ein Bus! Wer nach Åre und Duved will, soll sofort aussteigen. Reisende mit Ziel Östersund bleiben dagegen im Zug. Spontane Bauchentscheidung: Ich bleibe. Als sich die Aufregung gelegt hat, gehe ich durch den Schlafwagen. Alle Abteile sind leer! Ich bin der einzige, der geblieben ist.

Die Schaffnerin kommt noch mal vorbei. Ob ich wirklich nach Östersund wolle? Alles klar. Sie lädt mich auf einen Kaffee im Bordbistro ein.

Um halb zwölf geht ein Ruck durch den Wagen. Die Lok ist da! Sie hat sich vor den Zug gesetzt und soll uns nach Östersund schleppen. Es dauert noch ein bisschen, bis alle Kabel verbunden sind, doch dann: Das Licht springt an, die Steckdose funktioniert wieder – wir haben Strom!

Kopf aus dem Fenster

Und dann ist es soweit: Dreieinhalb Stunden nachdem der Zug seine Endstation erreicht haben sollte, rollen wir los. Ich bleibe erst mal liegen, sauge jedes Grad, das das Thermometer klettert, auf. Doch dann fällt mir ein: Das ist jetzt mein eigener, ganz privater Schlafwagen. Kurz muss ich an die Leute denken, die sich in den Bus gequetscht haben. Ein Grinsen huscht über mein Gesicht.

Ich schlüpfe in meine Winterjacke, streife die Handschuhe über und schnappe mir die Kamera. Mein Abteil – das Schlafzimmer – lasse ich hinter mir und nehme das nächste in Beschlag. Ich erkläre es zum Ausguckzimmer. Als ich das Fenster hinunter schiebe, schlägt mir eine brutal kalte Luft entgegen. Eisig, schneidend. Aber auch: So klar, so rein, so wunderschön, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Ich schiebe es auf dem Fahrtwind.

Blick aus dem Zugfenster während der Zug über eine Brücke fährt
Im Ausguckzimmer durch den Winternachmittag

Wir machen nun ordentlich Tempo. Die Landschaft wird karger, aber dramatischer. Schnee spritzt auf, die Sonne steht tief. Die Strecke knickt ab Richtung Westen. Eine der wenigen Querverbindungen in Schweden, die großen Magistralen verlaufen in Nord-Süd-Richtung. Immer wieder legt sich der Zug in langgezogene Kurven.

Als ich meine Finger kaum noch spüre, gehe ich zurück ins Schlafzimmer und wärme mich auf. Dann wieder nach nebenan, zum Gucken und Fotografieren, und immer so weiter. Zwischendurch ein Abstecher ins Speisezimmer, also das Bistro, wo die Schaffnerin und ihr Kollege abgekämpft in einem Meer aus leeren Kaffeebechern stehen.

Während ich so durch die Gänge husche, als wäre es mein Zuhause, piept mein Handy. Eine SMS, die schwedische Bahn. Sehr unangenehm sei ihnen die Sache. Und dass sie mir – selbstverständlich – den vollen Preis für die Reservierung zurücküberwiesen haben. Einfach so, ohne Formular. Dabei hätte ich doch eigentlich Zuschlag für dieses Abenteuer zahlen müssen.

Gegen drei Uhr kommen die ersten Häuser in Sicht. Östersund ist Biathlon-Fans ein Begriff. Gelegen ungefähr in der Mitte von Schweden, an einem großen See, der genauso heißt – Storsjön, fünftgrößter des Landes.

Nachtzug am Bahnsteig in Östersund
Ankunft in Östersund, achteinhalb Stunden nach Plan

Endstation, alle aussteigen.

Auf dem Bahnsteig knirscht der Schnee, das Thermometer am Bahnhofsgebäude zeigt minus 13 Grad. Ein paar Wackere, die auch im Zug ausgeharrt haben, springen aus den anderen Wagen. Wir nicken uns stumm zu. Unsere Zeit in Östersund mag sich um ein paar Stunden verkürzt haben. Dafür sind wir um ein Erlebnis reicher, von dem wir noch Jahre später erzählen werden.


Diese Geschichte ereignete sich auf meiner bisher größten Zugreise: In 42 Tagen einmal um die Ostsee – durch Schweden, Norwegen, Finnland und das Baltikum. Und das mitten im Winter! Auf Bluesky und Mastodon teile ich noch bis Mitte März täglich eine kleine Erinnerung an das Abenteuer.