Pfftsch.

So leise wie es eben geht, öffne ich die Dose. Ich liege auf dem oberen Bett, unter mir wird schon geschlafen. Zu hören ist nur noch das Rumpeln der Gleise. Es ist warm im Abteil und duster, nur meine Leselampe flackert noch müde vor sich hin.

Ich nehme einen Schluck vom kühlen Żywiec. Ganz erlaubt ist das wohl nicht, aber diesen Schlummertrunk habe ich mir verdient. Ein heißer Julitag liegt hinter mir – mit einer Zugfahrt nach Breslau und vielen tausend Schritten durch diese wunderschöne Stadt. Wrocław, wie sie auf Polnisch heißt, war diesmal aber nur Zwischenstation. Mich zieht es weiter. An die Ostsee.

Bäderverkehr

Halb Polen fährt im Sommer ans Meer. Eine ganze Kette von Badeorten zieht sich die Küste entlang: kilometerlange Sandstrände, Seebrücken, Rummel. Einige dieser Orte bindet die polnische Bahn in der Saison mit eigenen Nachtzügen an, darunter die alten Seebäder Kolberg (Kołobrzeg) und Swinemünde (Świnoujście) oder Łeba mit seinen wandernden Dünen.

Mein Ziel liegt weiter östlich: die Halbinsel Hel. Ein schmaler Streifen, teils nur wenige Hundert Meter breit, der sich zwischen die Danziger Bucht und das offene Meer geschoben hat. Sein Rückgrat bildet die Bahnstrecke. Ganz am Ende liegt der Ort Hel – zu erreichen mit der Fähre aus Danzig, oder eben mit dem Zug.

Karte der Bahnstrecke nach Hel

Auf Hel urlauben seit jeher Polens Präsidenten und empfangen ihre Staatsgäste. Ob Havel, Merkel oder Bush – sie alle waren da. Vermutlich allerdings eher mit dem Hubschrauber. Für das einfache Volk gibt es den Nachtzug.

Und das ist zahlreich erschienen an diesem Abend. Das Gedränge auf dem Bahnsteig ist groß, Koffer und Strandtaschen stapeln sich. Wie soll das alles in den Zug passen?

Doch mit Polens Sommernachtzügen ist es wie mit den Flüssen: Sie entspringen in allen Ecken des Landes – um sich dann zu vereinigen und gestärkt auf die Reise an die Ostsee zu gehen. Unser Zug hat seine Fahrt am Fuße des Riesengebirges begonnen. In Wrocław wird ein weiterer Zugteil angehängt, so dass eine stattliche Schlange aus 15 Wagen entsteht. Fast alle davon sind Sitzwagen.

Ein echter Oldtimer

Nach Hel fährt aber auch ein Schlafwagen, und in den steige ich. Baujahr 1977 steht auf der kleinen Plakette am Einstieg. Entsprechend rustikal ist der Charme. Das Bett ist noch nicht bezogen, die Toilette abgesperrt, dafür lassen sich die Fenster öffnen.

Bald darauf steigen meine Abteilgenossen zu. Ein älteres Ehepaar. Mein Polnisch ist schnell aufgebraucht, ihr Deutsch und Englisch auch, also verständigen wir uns mit Händen und Füßen. Und Lächeln. Lächeln hilft immer.

Gang im alten polnischen Schlafwagen

Es geht hinaus in die Nacht. Der Wagen hüpft übers Gleis wie ein junges Pferd. Ein letztes Aufbäumen? Na ja, bis Hel wird er wohl durchhalten. Nach der Abfahrt stehe ich noch eine Weile am offenen Fenster im Gang, dann schleiche ich auf Zehenspitzen zurück ins Abteil. Ich liege da, trinke mein Bier und stelle mir vor, durch welche Landschaft wir wohl gerade rollen.

Dabei muss ich eingeschlummert sein. Nur einmal wache ich auf, als der Lokführer eine scharfe Bremsung hinlegt. Er will wohl, dass wir auch 400 Meter weiter hinten was von seiner Arbeit mitbekommen.

Möwen und Morgenkaffee

In Gdynia werde ich von kreischenden Möwen geweckt. Eindeutig: Wir sind am Meer! Unser Zug ist inzwischen auf Normalmaß geschrumpft: Fünf Wagen sind es noch, die sich auf den Weg nach Hel machen, gezogen von einer Diesellok.

Blick auf dem offenen Fenster aufs Meer
Einschlafen in Wrocław, aufwachen an der Ostsee

Den Rest der Fahrt verbringe ich zwischen Abteil und Gang. Meine Abteilgenossen haben die Betten hochgeklappt und bieten mir einen Platz neben sich an. Mit einem Kaffee in der Hand – vom Schaffner für fünf Złoty – genießen wir die Landschaft. Auch ohne Worte.

Kiefern und Meerblick wechseln sich ab. Als ich gerade wieder am Fenster im Gang stehe, kommt eine junge Frau vorbei. Die Tochter des Ehepaars, wie sich herausstellt. Das Buchungssystem hat sie in ein anderes Abteil gespült. Sie spricht etwas Englisch und weist mich auf einen besonders schönen Ausblick hin.

Hinter uns werden die Schranken noch per Hand hochgekurbelt, das Plumpsklo rauscht direkt aufs Gleis – eine Fahrt im polnischen Sommernachtzug ist nicht nur ein Trip an den Ostseestrand, sondern auch in eine andere Epoche des Zugreisens.

Zug mit Diesellok zwischen Kieferwäldern
Die Bahnstrecke nach Hel ist nicht elektrifiziert

Die meisten steigen in den kleinen Badeorten vor der Endstation aus, so auch das Paar mit ihrer Tochter. Wir verabschieden uns nett, dann hieven sie ihre Koffer auf den Bahnsteig von Jurata. In Hel bin ich schließlich der Einzige, der aus dem Schlafwagen klettert. Es muss schnell gehen – der Zug fährt direkt in die Abstellung, am Abend wird er sich wieder auf die Reise nach Süden machen.

Tag am Meer

Es ist noch ruhig an diesem Sonntagmorgen. Der Bahnhof ist ein schnuckeliges Fachwerkhäuschen. Während der Zug langsam davonrollt, stellt die Toilettenfrau die Blumen raus. Man soll es schließlich schön haben.

Hel ist ein altes Fischerdorf und hat sich ein wenig von seinem ursprünglichen Charme bewahrt. Inzwischen lebt es aber vor allem vom Tourismus in den wenigen Sommermonaten. Restaurants, Souvenirshops und Nippes säumen die Straßen.

Straßenszene in Hel
Typischer Kutter im Hafen von Hel
Dünenlandschaft auf der Halbinsel Hel

Ich leihe mir ein Fahrrad und fahre zum Cypel, der äußersten Spitze der Halbinsel. Hier ist die Landschaft offen, ein Holzsteg führt durch die Dünen. Spannend: Die Halbinsel Hel wurde nicht etwa vom Festland abgeschliffen, sondern entstand durch das Zusammenwachsen einzelner Inseln. Ich liege am Strand und döse mehrmals kurz weg – ganz so erholsam wie im heimischen Bett war die Nacht im Zug dann doch nicht.

Den Rest des Tages gehe ich auf Entdeckungstour. Mit dem Rad sause ich durch trockene Kiefernwälder, erkunde Jurata mit seiner Seebrücke und sehe am Yachthafen von Jastarnia den Kitesurfern zu. Bei Kuźnica, wo die Landzunge besonders schmal ist und der Strand sich vornehm hinter einer hohen Düne versteckt, springe ich auch einmal ins lauwarme Meer.

Zugang zum Strand in Kuźnica

Zurück in die Nacht

Auf dem Rückweg kommt mir ein Zug entgegen – vorn eine tschechische Lok, dahinter polnische Wagen. Die beiden Bahngesellschaften betreiben den Saisonverkehr nach Hel gemeinsam. Inzwischen startet sogar ein Nachtzug im tschechischen Bohumín nahe der Grenze zu Polen.

Am Abend spaziere ich noch einmal die Promenade entlang. Inzwischen ist es proppevoll in Hel. Menschen amüsieren sich, genießen ihren Strandurlaub in vollen Zügen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie reizvoll es wohl wäre, einmal im November zu kommen – wenn der Ort im Dornröschenschlaf liegt und nur der Herbstwind das Meer aufpeitscht.

Später stehe ich wieder am Bahnhof. Zurück geht es erneut mit dem Nachtzug. Diesmal nicht nach Wrocław, sondern nach Katowice, und von dort weiter über die Berge in die Slowakei.

Diesellok und zwei Nachtzugwagen am Bahnsteig
Der Sommernachtzug steht abfahrbereit in Hel

Wieder liege ich im Bett, wieder ist es ein alter Schlafwagen. Der Mond scheint hell, ich werfe einen letzten Blick aufs Meer. Diesmal bleibe ich lange allein im Abteil. Erst in Gdynia steigt eine Frau zu, wir unterhalten uns noch lange. Sie ist von Polen nach Südamerika ausgewandert und nun auf Heimatbesuch.

Was für ein Trip, denke ich mir, und falle irgendwann nach Miternacht in einen tiefen Schlaf.


Praktische Tipps

Bahnstrecke

Die Bahnstrecke auf die Halbinsel Hel wird ganzjährig von Regionalzügen des Anbieters Polregio ab Gdynia befahren. Die Fahrt dauert knapp zwei Stunden. In der Sommersaison verkehren zusätzlich Schnellzüge aus vielen Teilen Polens, etwa von Warschau, Krakau, Wrocław und Przemyśl.

Nachtzüge

Das Angebot an saisonalen Nachtzügen variiert von Jahr zu Jahr. Zugegeben: Das ist schon etwas für Liebhaber, die wissen, wonach sie suchen müssen. In den letzten Jahren haben sich Sommernachtzüge von Bohumín an der tschechisch-polnischen Grenze über Katowice nach Hel und Łeba etabliert.

Die Züge bestehen überwiegend aus Sitzwagen, meist ist auch ein Schlafwagen im Zugverband dabei. Aktuelle Infos gibt es kurz vor Saisonbeginn auf den Seiten der PKP Intercity oder bei enthusiastischen Hobbyprojekten wie Vagonweb (Tipp: Nach der Zuggattung TLK Ausschau halten).

Tagesausflug

Ein Trip nach Hel lässt sich auch gut als Tagesausflug von Danzig aus unternehmen: Morgens mit dem Zug über Gdynia hin und abends mit der Fähre zurück (oder umgekehrt). Die Überfahrt dauert etwa eineinhalb Stunden. In der Hochsaison fahren mehrere Fähren täglich zwischen Danzig, Sopot, Gdynia und Hel.