Das Schauspiel beginnt hinter Oulu. Wir haben die nördlichste Großstadt der Europäischen Union gerade verlassen, als ich das Rollo zum ersten Mal hochschiebe. Ich blicke in ein Meer aus Farben: Rot, Gelb, Orange, Grün – und alle Abstufungen dazwischen. Ruska nennen die Finnen dieses Spektakel zwischen Spätsommer und erstem Schnee. Ein letztes Aufbäumen der Natur, ehe sich Winter und ewige Nacht über das Land legen.

Wir sind unterwegs im Nachtzug nach Lappland, der nördlichsten, größten und einsamsten Provinz Finnlands. Wann Ruska nach Lappland kommt, weiß niemand so genau. Auf gut Glück haben wir Tickets für die zweite Woche im September gebucht. Unser Ziel? Kemijärvi, knapp über dem Polarkreis.

Kemijärvi hat einen eigenen Nachtzug, der die kleine Stadt jeden Tag mit Helsinki verbindet. Wir sind jedoch in einem anderen Zug, der bereits in Rovaniemi endet. Der Clou: An diesem hängen Kurswagen aus Turku, so konnten wir abends direkt in den Schlafwagen steigen. Das ist nicht nur praktisch für alle, die im Südwesten von Finnland leben, sondern auch für Reisende aus Richtung Schweden – am Hafenbahnhof von Turku besteht direkter Übergang von den Fähren aus Stockholm.

Karte mit Nachtzugverbindungen in Finnland

Wir haben ein Abteil im oberen Stockwerk eines der riesigen grün-weißen Doppelstock-Schlafwagen bezogen. Hier gibt es nicht nur die beste Aussicht, sondern auch ein Mini-Badezimmer mit Dusche und WC direkt am Abteil. Was anderswo „Deluxe“ heißt, ist in Finnland oft nur wenig teurer als ein Standardabteil im Unterdeck. Es gibt zwei fest installierte Betten, übereinander angeordnet. Für einen Nachtzug sind sie fast schon verschwenderisch groß.

Wir drehen uns nochmal um, denn das ist der zweite Vorteil der Verbindung nach Rovaniemi: die deutlich entspanntere Ankunftszeit am Vormittag. Es kostet ein wenig Überwindung, aus den warmen Betten mit der niedlichen Eulen-Bettwäsche zu schlüpfen. Doch schließlich siegt die Neugier – und der Hunger. Auf dem Weg zum Speisewagen streifen wir staunend durch die lange Wagenschlange, in der sich Schlafwagen an Schlafwagen reiht.

Nachtzug am Bahnhof Turku

Von Bären und Beeren

Im Speisewagen setzen wir uns zu einer Gruppe Finnen. Sie sind auf dem Weg zu einer Bärensafari, erzählen sie. Ungläubig stochern wir in den Blaubeeren auf unserem Haferbrei. „Doch, doch“, klären sie uns auf, „etwa 1.000 Braunbären streifen durch das finnische Unterholz, Tendenz steigend!“ Je weiter nordöstlich man kommt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, den König des Waldes zu erspähen. Erlegen wollen sie ihn natürlich nur mit der Kamera, aus sicherer Entfernung.

Nach Nordosten ist auch der Schienenstrang inzwischen abgeknickt, die Küste liegt seit Kemi hinter uns. Noch einmal füllen wir unsere Kaffeebecher auf, dann wird es Zeit, das rollende Hotelzimmer zu räumen. „Nächster Halt: Rovaniemi“, verkündet die Ansage vom Band, „Endstation!“. Wie immer bei der Bahn in Finnland geschieht das auf drei Sprachen: Finnisch, Schwedisch und Englisch.

Im Speisewagen, vor dem Fenster ein See

Rovaniemi, die Stadt mit dem berühmten Weihnachtsmanndorf, ist für uns heute nur Zwischenstation. Ein Bus bringt uns das letzte Stück nach Kemijärvi.

Die nächste Stunde kleben wir an der Scheibe. Für den Höhepunkt von Ruska sind wir einen Tick zu früh dran. Noch stehen die Birken nicht lichterloh in Flammen, sondern es sind einzelne Glutnester, die die Straße säumen. Doch so ist es fast noch faszinierender, weil wir nie wissen, welche Farbe hinter der nächsten Kurve den Ton angeben wird. Zwischen den Bäumen gurgelt immer wieder ein Bach oder spiegeln sich die Wolken in einem vom Moorboden pechschwarz gefärbten Tümpel. Auch wenn ich es als Zugfan ungern zugebe: Busfahren in Lappland ist ein Erlebnis.

Kemijärvi, Stadt am See

Der Fahrer setzt uns am zentralen Busbahnhof von Kemijärvi ab. Naja, was man in Lappland eben so nennt: eine Tankstelle, ein Imbiss, ein Parkplatz. Dahinter beginnt die Natur. In Kemijärvi heißt das vor allem: Wasser. Die Stadt liegt an einem riesigen See, der praktischerweise ebenfalls Kemijärvi heißt. Mittendurch fließt der Kemijoki, Finnlands längster Fluss.

Eisenbahnbrücke in Kemijärvi, im Hintergrund die Kirche
Kemijärvi liegt am gleichnamigen See

Kemijärvi ist ein im besten Sinne verschlafenes Nest. Touristen verirren sich nur selten hierher, so können Barsch und Hecht weitgehend ungestört ihre Runden durch den See drehen. Auf einer Landzunge, von der einst Holzflößer auf die Reise gingen, kommen wir in einem kleinen familiären Hotel unter. Trotz früher Stunde dürfen wir schon einchecken und bekommen sogar ein zweites Frühstück serviert. Auch sonst fehlt es an nichts: Strand, Sauna, Seeblick – kurzum, ein kleiner lappländischer Traum.

Fahrräder wären gut, denken wir uns bald, und fragen uns durch die Geschäfte. Bei der Gelegenheit kaufe ich mir schnell noch eine Mütze, denn sieben Grad können ganz schön frisch an den Ohren sein. Als wir die Hoffnung schon fast aufgegeben haben, landen wir im Dorfkrug. „Klar haben wir Fahrräder“, sagt die Bedienung, und nimmt uns an die Hand. Dunkle Gänge, eine schwere Tür – und dann lächeln sie uns an: zwei Prachtexemplare der Marke „Tunturi“, benannt nach dem finnischen Wort für Fjell, dem im Norden vorherrschenden Gebirgstyp.

See Kemijärvi im Abendlich

Mit unseren Fjell-Flitzern machen wir uns auf Erkundungstour. Etwa in den kleinen Weiler Isokylä, wo wir von einem Aussichtsturm die Umgebung betrachten und uns in den Blaubeerbüschen die Bäuche vollschlagen. Ein Stück in dieselbe Richtung führt auch noch die Bahnstrecke weiter, die allerdings jenseits von Kemijärvi nur auf einem kurzen Abschnitt von Holzzügen befahren wird. Historisch führte das Gleis sogar noch bis zur russischen Grenze und darüber hinaus, hat aber nie praktische Bedeutung erlangt.

Nationalpark Pyhä-Luosto

Egal, wen wir nach Wanderzielen rund um Kemijärvi gefragt haben – die Antwort war immer gleich: Pyhätunturi! Der Pyhätunturi ist eine Bergkette, die 1938 zum ersten Nationalpark Finnlands erklärt wurde. Im Jahr 2005 verschmolz er mit dem benachbarten Luosto-Fjell zum Nationalpark Pyhä-Luosto. Von Kemijärvi aus gibt es genau eine Busverbindung am Tag, perfekt abgestimmt auf die Fahrzeiten des Nachtzuges. 

Eigentlich dauert die Fahrt nur 45 Minuten. In unserem Fall aber einen Tick länger, weil der Fahrer extra einen kleinen Zwischenstopp einlegt, damit wir die riesige Rentierherde, die plötzlich am Straßenrand auftaucht, in Ruhe beobachten können. Kiitos!

Isokuru-Schlucht im Pyhä-Luosto-Nationalpark

Der Bus hält am Besucherzentrum Navaa. Hier gibt es ein gemütliches Café und eine Ausstellung zur Natur im Nationalpark. Wir aber schnüren erst mal unsere Wanderschuhe. Von den drei Rundwegen entscheiden wir uns für „rot“: mittelschwer, 10 Kilometer. Die Route führt uns durch uralte Wälder, lässt uns die Geröllmassen der Isokuro-Schlucht durchpflügen und treibt uns schließlich über 375 Stufen auf den Gipfel. Von hier können wir die unfassbare Weite Lapplands ein Stückchen besser begreifen. Und auch Ruska ist oben schon weiter fortgeschritten mit ihrem Feuerwerk der Farben.

Schwitzen und Staunen

„Die Sauna ist uns Finnen heilig“, erklärt unsere Gastgerberin Johanna am Abend, und wirft ein Stück Holz ins prasselnde Feuer. Zwei Stunden dauert es, den traditionellen Saunaofen anzuheizen. Wir erfahren, wie man vor gar nicht allzu langer Zeit noch zur Geburt und zum Sterben in die Sauna ging, handelte es sich doch oft um den einzigen sterilen Ort. Und natürlich auch dazwischen, am besten so oft wie möglich und auf die entspannteste Art, die man sich vorstellen kann. Die finnische Sauna kennt nämlich nur eine Regel: keine Regeln. Da wird geredet, geplappert und gequatscht – aber auch geschwiegen. Jeder wie er mag, solange es niemanden stört. So einfach kann das Leben sein.

Als wir einige Saunagänge und Erfrischungsgetränke hinter uns haben, und uns in der klaren Nacht abkühlen, stolpern wir geradezu in das, wofür andere tausende Kilometer auf sich nehmen und Unsummen investieren: Polarlichter!

Sauna mit Wasserbehälter und Saunaofen

Es ist ein grünes Band, das über den Himmel wabert, zuckt und pulsiert und sich sogar im Wasser spiegelt. Gerade so schaffe ich es, mich an das Einmaleins der Polarlicht-Fotografie zu erinnern, dann drücke ich ab. Es klappt auf Anhieb –  ein dickes Ausrufezeichen hinter einen tollen Aufenthalt in Kemijärvi.

Beeindruckende Dimensionen

Für die Rückfahrt nehmen wir den direkten Nachtzug ab Kemijärvi. Am Bahnhof warten bereits acht Doppelstock-Schlafwagen auf ihren Einsatz. Sage und schreibe 304 frisch bezogene Betten, die Urlauber und Einheimische von einer 7.000-Seelen-Gemeinde in die Hauptstadt transportieren. Es sind beeindruckende Dimensionen.

Irgendwo vor Rovaniemi passieren wir ganz ohne Tamtam den Polarkreis. Wir sitzen längst wieder im Speisewagen und lassen uns Fleischbällchen mit Preiselbeeren schmecken. Was man sonst in einem schwedischen Möbelhaus erwartet, ist auch in Finnland ein beliebter Klassiker. Es schmeckt nicht nur gut, sondern ist auch optisch ein Leckerbissen, schließlich wird im Ravintolavaunu, wie der Speisewagen auf Finnisch heißt, stets auf Qualitätsporzellan serviert.

Nachtzug am Bahnhof Kemijärvi

Dass wir auf diese Weise die Reise ausklingen lassen können, ist nicht selbstverständlich: In den 2000er Jahren wurde der Zugverkehr nach Kemijärvi eingestellt, es fehlte an Fahrdraht und Schlafwagen, die mit Dieseltraktion kompatibel waren. Nicht zuletzt einer Initiative der lokalen Bevölkerung ist es zu verdanken, dass die Strecke elektrifiziert wurde und schließlich 2014 der Nachtzug nach Kemijärvi zurückkehrte.

Ein Glück, denn sonst wären wir vielleicht nie in diesem kleinen Paradies in Lappland gelandet.


Praktische Tipps

Nachtzüge in Finnland

  • Finnlands Nachtzüge werden von der Staatsbahn VR betrieben. Sie bieten neben komfortablen Schlafwagen auch Sitzwagen, jedoch keine Liegewagen. Zusätzlich führen die Nachtzüge auch Autotransportwagen mit.
  • Neben der Strecke nach Kemijärvi gibt es weitere Nachtzüge von Helsinki nach Rovaniemi und Kolari sowie von Turku nach Rovaniemi. Tipp: Am Hafenbahnhof von Turku besteht direkter Anschluss zu den Fähren aus Stockholm.
  • Ein Ticket für den Schlafwagen kostet ab 49 € für ein Abteil im Unterdeck sowie ab 74 € für ein Abteil im oberen Stockwerk mit Dusche und WC. Gebucht wird stets das gesamte Abteil, das ihr entweder allein oder zu zweit nutzen könnt. Im Unterdeck lassen sich zwei benachbarte Abteile zu einer Suite verbinden.
  • Jeder Schlafwagen verfügt über ein barrierefreies Abteil und ein Abteil für Reisende mit Haustieren. Auf allen Linien ist die Fahrradmitnahme möglich.

Kemijärvi

  • Das beschauliche Kemijärvi ist ein guter Ausgangspunkt für Expeditionen in die Wildnis Lapplands. Hier gibt es alle Annehmlichkeiten wie Supermärkte, Geschäfte und Restaurants.
  • Im familiär geführten Strandhotel Uitonniemi könnt ihr vom traditionellen Saunahaus direkt in den See hüpfen. Gut und preiswert essen lässt sich im Gasthaus Mestarin Kievari, hier gibt es unter der Woche ein typisch finnisches Mittagsbuffet („Lounas“).

Nationalparks

  • Finnlands 41 Nationalparks sind der ideale Zugang zur einzigartigen Natur des Landes. Die Parks bieten gut markierte Wanderwege, Schutzhütten und mehr. Detaillierte Informationen und Karten sind auf nationalparks.fi verfügbar.
  • Von Kemijärvi aus sind die Nationalparks Pyhä-Luosto und Salla einfach per Bus zu erreichen. Die Fahrpläne sind auf die Nachtzüge abgestimmt. Busverbindungen in ganz Finnland findet ihr unter matkahuolto.fi.
  • Ebenfalls gut mit Nachtzügen und Anschlussbussen erreichbar sind die Nationalparks Pallas-Yllästunturi (via Kolari) und Urho-Kokkonen (via Rovaniemi).

Dieser Text basiert auf zwei Reisen nach Lappland, die ich ganz am Anfang meiner Zeit in Finnland unternahm. Ich habe versucht, den frischen Blick von damals zu bewahren und hier und da sanft um ein paar Einsichten zu ergänzen, die mir erst später gekommen sind.

Habt ihr Lust bekommen, auch einmal mit dem Nachtzug nach Lappland zu reisen? Schreibt mir gerne einen Kommentar!