44: Seien wir nett zur Bahn, wir haben nur die eine
Ist gut jetzt. Jeder hat kapiert, dass es bei der Deutschen Bahn schlecht läuft. Nun gilt es, die Zähne zusammenzubeißen, damit es wieder besser wird.
Hallo Zugfans 👋
Als ich klein war, hatte ich ein Kinderlexikon. Das Wort „Optimist“ war darin wie folgt bebildert: Ein Mann fährt mit dem Auto gegen einen Baum. Doch anstatt sich zu ärgern, streckt er die Hand durchs Fenster und pflückt sich einen Apfel. Und lächelt dabei auch noch! Resilienz würde man das wohl heute nennen.
Ich selbst würde mich nicht als ausgesprochenen Optimisten bezeichnen. Und doch versuche ich mir in Situationen, die ich nicht ändern kann, den Apfelfreund zum Vorbild zu nehmen. Der Sommer ist vorbei? Klar, ich könnte mich jetzt schrecklich aufregen, aber ich fürchte, das wird den Lauf unseres Planeten nicht beeinflussen. Also schnüre ich lieber die Wanderschuhe und freue mich über die bunten Herbstfarben und die klare Luft, die meine Lungen durchströmt.
Das gilt auch für das Zugreisen. Einmal strandete ich mit dem Nachtzug in Schweden. Ein Lokschaden, statt ins verschneite Fjäll hatten wir es nur in ein Kaff hinter Stockholm geschafft. Nach und nach stiegen meine Mitreisenden entnervt aus, organisierten sich Taxis und Mitfahrgelegenheiten. Ich blieb und kuschelte mich in meine Decke. Als nach acht Stunden tatsächlich eine Ersatzlok auftauchte, war ich der letzte, der noch nicht aufgegeben hatte. Es folgte eine der schönsten Zugfahrten meines Lebens, am offenen Fenster in meinem privaten Schlafwagen.
Wie kriege ich jetzt den Bogen zur Deutschen Bahn? Okay, vielleicht so: Die Bahn ist vor die Wand gefahren. Und zwar so richtig. Jedenfalls, wenn man den Medien Glauben schenken darf.
Ich schreibe euch diese Zeilen aus einem winzigen Nest in Mittelfinnland, wo ich mal wieder auf Nationalpark-Expedition bin. Weit weg vom deutschen Bahnchaos, könnte man meinen. Natürlich bin ich mit dem Zug angereist. Naja, so weit es eben geht, die letzten 60 Kilometer musste ich mit dem Rad fahren. Von einem dichten Schienennetz wie im Deutschland kann man hierzulande nur träumen.
In Tampere jedenfalls stieg ich um, und was musste ich da am Bahnhofskiosk sehen?
Wie heißt es so schön: Man kann um die ganze Welt ziehen, aber die Probleme von zu Hause nimmt man immer mit. Nicht nur bei der Zeit, auch beim Spiegel, der Süddeutschen Zeitung und vielen anderen mehr gehört der große Rundumschlag gegen die Deutsche Bahn zum Standardrepertoire.
Versagen, Versagen, Versagen. Ich kann es nicht mehr hören. Was will man mit diesem hysterischen Ton erreichen? Ach so, billige Likes und Klicks abfischen natürlich. Manch einer scheint den endgültigen Kollaps kaum erwarten zu können.
Hier ist der Punkt: Jeder hat verstanden, dass die Deutsche Bahn in der Krise steckt. Es immer und immer zu wiederholen, statt über Lösungen zu sprechen, stürzt uns in eine Negativitätsspirale, aus der man irgendwann nicht mehr herauskommt. Mit Untergangrhetorik spielt man am Ende nur den Falschen in die Karten.
Was bleibt uns als Fahrgästen denn übrig? Fliegen, ins Auto steigen? Jetzt werdet mal nicht komisch. Hier kommt mein Vorschlag: Wenn es mal wieder drunter und drüber geht, pflückt euch einen Apfel. Oder zumindest ein Getränk im Bordbistro. Und lächelt. Für die Menschen, die auf den Zügen arbeiten, ist es keine leichte Zeit. Sie können am wenigsten dafür, dass die Bahn über Jahrzehnte auf Verschleiß gefahren wurde.
Immerhin, Hoffnung gibt es, das musste auch die Zeit zugeben: In einer Generalsanierung werden in den kommenden Jahren 4000 Kilometer Gleis erneuert. Die Fahrzeugflotte wird immer jünger. Das Fernziel Deutschlandtakt verspricht paradiesische Zustände. Und ganz nebenbei ist die Pünktlichkeit im Flugverkehr auch nicht höher, sondern deutlich schlechter.
Ja, es wird ein bisschen dauern, bis es nachhaltig besser wird, da gibt es nichts zu beschönigen. Beißen wir also die Zähne zusammen. Und seien wir nett zu der Bahn, denn wir haben nur die eine.
Ihr braucht gute Nachrichten aus der Welt des Zugreisens? Okay, wie wäre es damit: Ab November wird es deutlich einfacher, mit dem Zug von Budapest nach Belgrad zu fahren. Und die EU verschenkt wieder Interrail-Pässe an junge Erwachsene – noch bis Mittwoch könnt ihr euch bewerben.
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Ein bisschen Zugliebe verbreiten durfte ich in der taz. In der Serie „Nachtzugkritik“ erschien ein kurzer Bericht von mir über die legendäre Fahrt mit dem Intercity Notte nach Sizilien. Die lange Fassung mit mehr Eindrücken, vielen Fotos und allen praktischen Tipps lest ihr natürlich in der Zugpost.
Habt einen schönen Sonntag!
– Sebastian