„Bratislava? Was willst du da denn?“
Mein Arbeitskollege schaute mich mit großen Augen an, als ich ihm von meinen Reiseplänen berichtete. Es war Sommer 2014 und mal wieder spät geworden. Einer dieser viel zu langen Tage, die keinen Feierabend kannten. Ich war Doktorand an einer norddeutschen Universität und hatte mich in mein Forschungsthema verbissen. Was links und rechts passierte, nahm ich kaum noch wahr.
Mit einer Ausnahme. Seit einiger Zeit erlaubte ich mir, mich einer alten Kindheitsbegeisterung hinzugeben: der Eisenbahn. In den Nächten nach der Arbeit klickte ich mich durch Bahnforen. Ich las von Menschen, die jede freie Minute nutzten, um mit dem Zug durch Europa zu fahren. Sie aßen im Speisewagen und schliefen im Nachtzug. Besonders oft hießen ihre Ziele Tschechien, Polen oder Ungarn. Hier war die Eisenbahnwelt noch in Ordnung, schrieben sie.
Rückblickend war es wohl mein Unterbewusstsein, das mich in diese Ecken des Internets lenkte, um nicht völlig auszubrennen. Damit ich aber selbst einmal in den Zug stieg, brauchte es noch zwei Ereignisse.
Eine Doku mit Folgen
Das eine war eine Dienstreise nach Lausanne. Auch schon mit der Bahn, die damals aber nur Mittel zum Zweck war. Ich hörte Französisch, bestellte Cafés und Croissants, wanderte durch die Weinberge am Genfer See. In mir kribbelte es. Nachdem ich mich viele Jahre in meinem kleinen Universum aus Uni und Arbeit verschanzt hatte, spürte ich eine Sehnsucht nach Europa. Eine Lust auf Neues.
Ich würde bald dreißig werden und hatte kaum etwas von der Welt gesehen. Nicht, weil mir die Neugier fehlte, die war immer da. Sondern der Mut. Und überhaupt: Wo anfangen in diesem Meer an Möglichkeiten?
Endgültig Klick machte es, als ich auf einem meiner nächtlichen Streifzüge auf eine Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks stieß. Darin fuhr der Reporter in Speisewagen verschiedener Bahngesellschaften durch Tschechien. Er traf auf Köche, Kellner und Stammgäste, und setzte ihnen und der Landschaft, durch die sich ihre Züge schlängelten, ein liebevolles Porträt.
Besonders berührte mich Josef, der Koch im ungarischen Speisewagen. Ein freundlicher älterer Herr, kurz vor der Pensionierung. Wie er da so in der Kombüse stand, Paprika aus dem eigenen Garten schnibbelte und von seinem Sohn erzählte, der ebenfalls Speisewagenkoch war, ging mir das Herz auf. Das war so wunderschön, rührend und mit einem Schuss Melancholie – das musste ich auch erleben!
Die Doku gab meine Route vor: von Berlin nach Budapest, wo so viele Eurocity-Züge aus verschiedenen Ländern verkehren. Ich kaufte mir eine durchgängige Fahrkarte, mit Unterbrechungen in Prag und Bratislava. Damals war das bei der Deutschen Bahn noch kein Problem und kostete mich schlappe 45 Euro.
Ich wusste nicht genau, was ich in Bratislava und den anderen Orten entlang der Strecke wollte. Aber ich hatte eine Ahnung, dass es mir guttun könnte.
1. Station: Prag – Wende in Děčín
Ein heißer Vormittag Ende Juli. Ich stehe am Bahnhof Berlin-Südkreuz und habe Panik. Eigentlich bin ich perfekt vorbereitet. Das Ticket ist ausgedruckt, den Weg zum Hotel habe ich mir penibel aufgeschrieben. Und doch habe ich keine Ahnung, was mich erwartet. Ich bin zwar schon alleine verreist, aber nicht ins Ausland, geschweige denn in Länder östlich der Grenze. Wie geht das überhaupt?
Der Zug fährt ein. Wo ist der Speisewagen? Egal, erstmal rein. Ernüchterung. Es ist bumsvoll. Der letzte Eurocity ist ausgefallen, jetzt stapeln sich zwei Zugladungen Touristen in den blau-weißen Wagen. Es ist stickig und warm, die Schaffner sind genervt. Halb stehend, halb auf meinem Rucksack hängend, verbringe ich die gesamte Fahrt im Gang. Vom malerischen Elbtal bekomme ich kaum etwas mit, an ein Durchkommen in den Speisewagen ist nicht zu denken.
Das ist also dieses Zugreisen? Ich will am liebsten wieder nach Hause.
Dann erreichen wir Děčín, den ersten Halt in Tschechien. Exotische Orte auf den Anzeigen, die ersten Brocken Tschechisch wehen durch die Tür hinein. Mich überkommt ein, ja, europäisches Gefühl. Mir kommen die Tränen, als ich realisiere, dass man die Grenze einfach so mit dem Zug überrollen kann. Die Anspannung fällt ab und ich entscheide mich, das alles ab jetzt einfach zu genießen.
In Prag schlage ich mich wacker. Ich schlendere durch die Altstadt, schiebe mich über die Karlsbrücke und fahre mit der berühmten Straßenbahn 22. Nachdem ich um etliche Restaurants herumgeschlichen bin, meistere ich sogar die Höchstschwierigkeit für Solo-Reisende: alleine essen gehen.
Als ich dann in der goldenen Abendsonne an der Moldau sitze, ein Bier in meiner Hand, fühle ich mich – frei. Niemand kennt mich hier, niemand interessiert sich dafür, ob ich auf dem Boden oder irgendwelchen Mauern herumkrieche, um das beste Fotomotiv zu finden. Es wird alles gut werden, spüre ich.
Das sollte nun zur Blaupause für die kommenden Tage werden: Tagsüber Zug fahren und Städte erkunden, abends am Wasser sitzen, fotografieren, eine gute Zeit haben. Wenig später kommt eine Streife vom Ordnungsamt vorbei und weist mich darauf hin, dass Biertrinken in der Öffentlichkeit hier verboten ist.
In Prag, ausgerechnet.
2. Station: Bratislava – Endlich Speisewagen!
Zwei Tage später geht es auf die nächste Etappe. Dieses Mal will ich alles richtig machen und stehe lange vor der Abfahrt am Bahnsteig. Am Nachbargleis spuckt der verspätete Nachtzug aus Amsterdam gerade seine müden Passagiere aus. Bis zu seiner Einstellung sollten noch zwei Jahre vergehen.
Um Punkt 12 rollt mein Zug ein. Es ist der „Hungaria“, der ungarische Eurocity aus der Doku. Ich stürme direkt in den Speisewagen und dort… ist komplett tote Hose. Der Zug hat eine längere Standzeit in Prag, und auch das Personal macht erstmal Pause. Etwas unsicher stehe ich herum, von der Etikette im Speisewagen habe ich ja keine Ahnung. Darf ich hier überhaupt sein? Ins Zugrestaurant zu gehen – das wäre mir vorher nie in den Sinn gekommen.
Schließlich setze ich mich an einen der Zweiertische. Alles ist so rot und plüschig, wie ich es mir vorgestellt habe. Es gibt Tischdecken, Gardinen und Salzstreuer, gold eingefasste Lampen unter der Decke tauchen den Gastraum in schummriges Licht. Wie ein Retro-Café, nur ohne Retro, denn das hier ist echt.
Irgendwann ist dann Abfahrt, und der Kellner kommt vorbei. Er ist freundlich und spricht Deutsch mit charmantem Akzent. Ich probiere mich einmal durch die Karte: Gulasch mit Nockerln, Palatschinken, Kaffee. Während wir gemütlich durch Böhmen und Mähren gondeln, fühlt es sich noch etwas komisch an, so allein dazusitzen und sich bedienen zu lassen. Doch die Fahrt auf diese Art wortwörtlich zu genießen, vertieft in Essen und Landschaft, gefällt mir. Dass sich in den Gängen wieder die Leute stapeln, bekomme ich erst auf den letzten Metern mit.
Bratislava ist schnell erzählt: Im Norden die Altstadt, im Süden Plattenbauten, dazwischen die Donau – überspannt von einer Brücke, die aussieht, als sei gerade ein Raumschiff gelandet. Als ich dort abends am Wasser sitze, packt mich die Abenteuerlust. Statt noch einen Tag in der Hauptstadt der Slowakei zu verbringen, könnte ich ja einen Ausflug machen und mehr vom Land sehen.
3. Station: Rajec – Meine kleine persönliche Mondlandung
Am nächsten Morgen marschiere ich schnurstracks zum Bahnhof. „Welcome to Slovakia“ steht da in riesigen Lettern. Ich nehme das wörtlich und kaufe mir eine Fahrkarte nach Žilina. Das scheint idyllisch gelegen zu sein, einige interessante Bahnstrecken gibt es auch, also los. Ich steige in einen modernen Zug der Slowakischen Bahn. An Bord gibt es sogar WLAN, was damals noch nicht selbstverständlich ist und so gar nicht zu den üblichen Klischees passen will. Überschwänglich schreibe ich einem Kollegen, dass ich ihm gerade aus dem Zug schreibe.
Aus einem Zug! In der Slowakei!
Žilina ist eine richtige Eisenbahnstadt. Ständig rauschen Züge in den Bahnhof hinein und wieder hinaus oder machen auf einem der Stumpfgleise Pause. Wagenmeister gehen mit ihren Hämmern umher und klopfen ab, ob an den Rädern alles in Ordnung ist. In der Wartehalle warten Fahrgäste darauf, dass endlich das Abfahrtsgleis auf der Anzeigetafel erscheint.
Ich bin fasziniert von dieser mir komplett neuen Welt und will mehr. Nach einem kurzen Studium des Fahrplans nehme ich allen Mut zusammen, gehe zum Schalter und trage meinen Wunsch vor: Rajec. Die Schalterdame zeigt wortlos auf den Betrag, ich schiebe ein paar Münzen unter der Glasscheibe hindurch und erhalte die Eintrittskarte zu einem kleinen Bahnabenteuer.
Tack-tack, tack-tack. Der Triebwagen hüpft über Schienenstöße, die kleinen Lücken, die entstehen, wenn die Gleise nicht verschweißt, sondern verschraubt sind. Nebel steigt an den grünen Hängen auf. Über dem Tal schweben Loren; offenbar wird hier, in den Ausläufern der Malá Fatra, Bergbau betrieben.
In Rajec schwenkt ein Bahnbeamter in Uniform seine Kelle, zwei Frauen mit Fahrrädern beäugen sein Tun. An die Überdachung des kleinen Bahnhofs hat jemand Töpfe mit Blumen gehängt. Ich drehe eine kurze Runde durch den Ort. Als es zu regnen beginnt, fahre ich wieder zurück. Mir fällt kein einziger Grund ein, warum man Rajec besuchen sollte, und doch ist dieser spontane Ausflug ins slowakische Nirgendwo meine kleine, persönliche Mondlandung.
Als ich abends zurück in Bratislava bin und von der Burg auf die beleuchtete Stadt blicke, muss ich schmunzeln. Südkreuz ist ganz weit weg. Ich mache jetzt Schienenexpeditionen in der Slowakei.
4. Station: Budapest von unten und oben
Auf dem Weg nach Budapest sitze ich im tschechischen Speisewagen. Ein kleiner, weißhaariger Mann mit Schürze serviert mir Nudeln mit Gemüsesauce. Bei Szob überqueren wir die Grenze zu Ungarn. Die Buchstaben auf den Bahnhofsschildern sind jetzt gelb, für einen Euro gibt es dreihundert Forint, und die Sätze des Zugbegleiters, die aus dem Lautsprecher fließen, mäandern in ihrer wundersamen Melodie ebenso dahin wie die Donau vor dem Fenster.
Ankunft in Budapest-Keleti. Eine Fanfare schwebt durch die Gleishalle und kündigt die Ansagen an. Auf den Bahnsteigen Gewusel, ein Hauch von Abenteuer in der Luft. Bukarest und Belgrad sind nur noch eine Zugfahrt entfernt. In den Seitenhallen Marmorsäulen und kunstvolle Wandgemälde. Was für ein Bahnhof. Nein, kein Bahnhof, eine Kathedrale. Eine Kathedrale des Zugreisens.
Ich beziehe Quartier in einem Apartment über den Dächern der Stadt. Mit Budapest fremdle ich zunächst, doch spätestens als ich zur blauen Stunde mit meiner Kamera losziehe, zieht mich seine Schönheit in den Bann.
Ich betrachte die Stadt von unten, aus dem Stadtteil Pest östlich der Donau, und von oben, aus dem Stadtteil Buda westlich des Flusses, wo die Burg und die Fischerbastei tolle Ausblicke bieten. Besonders faszinierend ist der Blick auf das Parlamentsgebäude, einen Palast aus hundert Türmchen und Giebeln, um die herum mindestens ebenso viele Vögel durch die Nacht flattern. Mystisch!
Am nächsten Morgen bin ich wieder am Keleti pályaudvar, wie der Bahnhof auf Ungarisch heißt, und stelle mich in eine lange Schlange. Mein Ziel: eine Fahrkarte nach Wien, der letzten Station meiner Reise. Als ich einen Rüffel kassiere, weil ich mit dem Handy schnell ein Foto knipsen will, habe ich genug. Ich fahre zum Bahnhof Déli, wo alles viel schneller geht, und bekomme eine Rückfahrkarte in die Hand gedrückt. Das sei günstiger als die einfache Fahrt, versichert man mir.
Ich pilgere auch noch zum Nyugati, dem dritten großen Bahnhof der Stadt, fahre mit einer der ältesten U-Bahnen der Welt und tauche zwischendurch auf der Margareteninsel meine Zehen ins Wasser. Sicher, in einer idealen Welt wäre es schön, diese Erlebnisse mit jemandem zu teilen. Aber ehrlich gesagt, genieße ich es, mich nicht abstimmen zu müssen. Mich nicht erklären zu müssen, weil ich lieber Metrostationen besichtige statt Museen und Kopfbahnhöfe erkunde statt Clubs.
Ich bin mir selbst genug in diesen Tagen, und es ist gut.
5. Station: Ausrollen in Wien
Mit Wien verlasse ich die Kulinarischen Gleise aus der Doku und mache noch einen kleinen Schlenker. Hinüber in die Stadt von Falco und Sisi bringt mich der Railjet. Ein Zug nach einem Flugzeug benannt, na ja. Moderne Züge sind großartig, um schnell und schnörkellos von einem Ort zum anderen zu gelangen. Erinnerungen fürs Leben werden in ihnen dagegen eher selten gemacht.
Ein bisschen geht es mir so auch mit Wien selbst. Es liegt nicht an der Stadt, die ist wirklich zauberhaft. Aber ich bin müde und bereits voll mit Eindrücken, die es zu verarbeiten gilt. Außerdem: Man spricht Deutsch, man zahlt in Euro – der Abenteuerfaktor geht Österreich ein wenig ab.
Ich erreiche Wien am Westbahnhof. Der neue Hauptbahnhof ist zwar schon fertig, bis zur Eröffnung sind es aber noch ein paar Wochen. Von einem Turm an der Baustelle verschaffe ich mir einen Überblick. Pflichtschuldig schaue ich mir noch einige Sehenswürdigkeiten an, doch am meisten in Erinnerung bleiben mir zwei schöne Sommernächte, die ich am Donaukanal verbringe.
Zwei Tage später steige ich in den ICE nach Hamburg. Wie selbstverständlich gehe ich ins Bordrestaurant, esse Salat mit Hähnchenbrust und trinke ein kühles Alster. Der Zug legt sich in die Kurven, ich lausche den Gesprächen an den Nachbartischen.
Ängstlich bin ich nicht mehr. Im Gegenteil: Ich habe meine Art zu reisen gefunden. Und ein Stück weit auch mich selbst.
Zehn Jahre auf Schienen – Ein Resümee
Zehn Jahre und viele tausend Schienenkilometer später sitze ich in meiner Wahlheimat Turku in Finnland und schreibe diese Zeilen. Dass ich ausgerechnet hier gelandet bin, hat auch mit einer Zugreise zu tun, aber das ist eine andere Geschichte.
Zugreisen sind ein fester Bestandteil meines Lebens geworden. Noch im selben Jahr stieg ich wieder ein und fuhr erstmals nach Dänemark und Schweden. Bald darauf führten mich die Schienen nach Breslau in Polen, zur Tour de France nach Frankreich, zweimal in die Ukraine, bestimmt zwei Dutzend Mal über den Polarkreis und zuletzt bis nach Sizilien, Cinque Terre, in die schottischen Highlands und durch das Baltikum. Längere, weitere, beeindruckendere Reisen.
Und doch wird meine erste richtige Zugreise immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Ob sie mich zu einem besseren Menschen gemacht hat, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall zu einem offeneren und mutigeren.
Ist deswegen alles gut?
Eigentlich sollte euch diese Zugpost schon vor zwei Wochen erreichen. Aber es fiel mir schwer. Interessiert das überhaupt jemanden? Ist das nicht alles ziemlich peinlich? Selbstzweifel, Blockaden, Lähmung.
Es wäre einfach gewesen, mich als Veteran des Zugreisens zu verkaufen, für den das alles eine Kleinigkeit ist. Glaubt mir, im Aufsetzen von Masken habe ich Erfahrung. Aber ich finde, im Internet gibt es genug Leute, die schon immer alles besser wussten und konnten. Darum habe ich die Geschichte so erzählt, wie sie wirklich war – die Geschichte eines Spätstarters mit Schwächen und Sorgen, der es irgendwann wagte, den ersten Schritt zu machen. Und daran gewachsen ist.
Bald werde ich vierzig und habe ein kleines Stück der Welt gesehen. Doch es liegen noch viele Schritte vor mir. Vielleicht ermutigt dieser Text ja die eine oder den anderen von euch, ebenfalls einen Schritt zu wagen. Es würde mich freuen.
Habt ihr auch schon einmal eine Zugreise unternommen, die euch besonders viel bedeutet? Vielleicht sogar eine, die euer Leben verändert hat? Erzählt mir gerne davon in den Kommentaren!
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