Weiße, etwas klobige Wagen, jeder zweite mit Werbung beklebt. Auf den ersten Blick sieht die Kusttram aus wie eine ganz normale Straßenbahn. Und doch ist sie wohl die ungewöhnlichste Tramlinie Europas. Wo sonst kann man für drei Euro die Küste eines ganzen Landes abfahren, den Strand fast immer in Sicht?
Dass Belgien überhaupt eine Küste hat – ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass mir das klar war, als ich zum ersten Mal von der Kusttram hörte. Besonders lang ist dieser Streifen Nordsee, eingeklemmt zwischen niederländischer und französischer Grenze, ja nicht.
Aber hier ist alles versammelt: Unberührte Natur und Bausünden. Ein ehrwürdiges Seebad mit Kasino. Bistros, Bistros, Bistros. Ein Containerhafen. Und fast überall feinster Sandstrand. Mitten durch dieses Durcheinander bimmelt alle paar Minuten die Kusttram.

Küste der Kontraste
Es beginnt an einer Wendeschleife am Stadtrand. Im vornehmen Knokke, Belgiens nördlichstem Badeort, haben sie die Tram etwas versteckt. Rechtwinklige Straßen führen zum Strand, teure Autos und Edelboutiquen säumen den Weg. Eine Wohnung mit Seeblick kostet mindestens eine Million. Schön? Nicht unbedingt.
Gerade mal 70 Kilometer ist die belgische Küste lang, und jeder will sein Stück davon abhaben. Also baut man in die Höhe. Bis zu zehnstöckig zieht sich der Apartmentriegel die Promenade entlang.
Ich gehe am Strand spazieren. Es ist Oktober, die Sonnenliegen sind längst weggeräumt. Nur der Wind, die Wellen und ein paar Spaziergänger mit ihren Hunden. Ein kleines Stück des Sandstreifens wurde eingezäunt und mit Dünengras bepflanzt. Am Horizont liegt eine Kette Containerschiffe, irgendwo dahinter England.

Zwei, drei Stationen weiter ein ganz anderes Bild. Riesige Gasbunker, die Tram rumpelt über eine Seeschleuse. Zeebrügge ist der größte Hafen der belgischen Küste. Er ist dem mittelalterlichen Brügge vorgelagert, das einst einen eigenen Seezugang hatte. Als dieser versandete und der ewige Konkurrent Antwerpen längst davongeeilt war, baute man einen neuen Hafen direkt ans Meer. Heute gehen vor allem Autos von hier in die Welt.
Für ein Stück macht die Kusttram nun Tempo und wird zur Überlandstraßenbahn. Doch meistens geht es durch dichte Bebauung, Orte wie Blankenberge und Wenduine gehen ineinander über. Im Schnitt gibt es jeden Kilometer einen Halt. Die zweieinhalb Stunden von Ende zu Ende können sich so ganz schön lang anfühlen. Aber der Reiz liegt ja darin, zwischendurch einmal auszusteigen.
Einstein am Strand
„Ganz heiß!“, sagt der Verkäufer, als er mir in De Haan die Waffel in die Hand drückt. Er spricht Deutsch. Ich höre es an diesen Tagen mindestens so oft wie Niederländisch und Französisch. Kein Wunder, es sind Herbstferien in Nordrhein-Westfalen, und von Köln ist man schneller an der belgischen als an der ostfriesischen Küste.
De Haan ist der vielleicht schönste Ort entlang der Strecke. Für die Tram gibt es einen richtigen Bahnhof, der ein wenig an ein Schwarzwaldhaus erinnert. Der Weg zum Strand führt durch malerische Villenviertel. Ecktürmchen, Fensterläden, großzügige Gärten.

Auf einer Bank in einem kleinen Park sitzt der wohl berühmteste Fahrgast der Kusttram: Albert Einstein, natürlich in Bronze. Er war 1933 mit seiner Frau Elsa nach De Haan gekommen. Jeden Tag trank er auf der Terrasse des Grand Hotel „Belle Vue“ seinen Kaffee und dachte über die Zukunft nach. Dass diese nicht mehr in Deutschland lag, war klar. Im September brach er nach einem Zwischenstopp in England für immer in die USA auf.
Charmantes Ostende
In Ostende, auf Flämisch Oostende, hält die Kusttram neben der ehrwürdigen Bahnhofshalle. Bevor der Eurotunnel gegraben war, war der Bahnhof ein Drehkreuz. Reisende kamen mit dem Schiff aus England und stiegen hier in Züge in alle Ecken Europas.
Ostende, einst Königin der Seebäder, liegt auf etwa halber Strecke. Ein guter Ausgangspunkt, um mit der Kusttram auf Tour zu gehen. Ich komme günstig in einem alten Hotel unter, die Treppenstufen knarzen unter meinen Schritten. Auch wenn der Putz etwas bröckelt, hat sich Ostende seinen mondänen Charme erhalten. Der alte Kursaal, die Königlichen Galerien, die hübschen Bistros – man kann sich gut vorstellen, wie sich hier die Kulturszene traf, ehe Europa im Zweiten Weltkrieg versank.

Abends sitze ich in einer Frituur, wie die zahllosen kleinen Frittenlokale in Flandern heißen. Die Jungs hinter der Theke spielen sich die Bälle zu und haben sichtlich Spaß an ihrem Job. Die Pommes sind knusprig und heiß, dazu gibt es einen vegetarischen Burger.
Es dämmert noch, als ich am nächsten Tag wieder einsteige. Am zentralen Marie-Joséplein erinnert ein steinernes Wartehäuschen an die lange Geschichte der Tram. Der erste Abschnitt wurde 1885 als Dampfstraßenbahn eröffnet. Bald war er Teil eines riesigen Kleinbahnnetzes, das sich über ganz Belgien erstreckte. Die Kusttram ist das letzte Überbleibsel aus dieser Zeit und fährt auch heute noch auf Meterspur.

Der Wagen ist dichtgepackt. Schüler, Berufstätige. Ganz normale Leute, die ganz normalen Geschäften nachgehen. Ab und zu landet ein Tourist in der Kusttram und ist mit dem Lesegerät für das Ticket überfordert. Dabei ist es ganz einfach, man muss die Karte beim Einsteigen nur einmal kurz ans gelbe Kästchen halten.
Nächster Halt: Unendlichkeit
Wir surren aus der Stadt. Nun folgt das schönste Stück der Kusttram. Bis Middelkerke geht es immer am offenen Meer entlang, für Kilometer nur Dünen und Strand. Der Wind treibt schwere Wolken über die See, ein Kutter wirft seine Netze nach Muscheln oder Krabben aus.

Ich drücke auf den Knopf. Der Wagen spuckt mich an einer einsamen Haltestelle aus, nur eine Mauer trennt sie vom Strand. Ich gehe die Treppe hinunter. Die grauen, vom Sand geschliffenen Stufen lassen mich an San Sebastián denken, wo ich im Frühjahr schon mal ans Meer ging. Hier die Nordsee, dort der Atlantik, verbunden durch den Ärmelkanal. Mein Reisejahr schließt sich.
Das Wasser zieht sich zurück, es geht auf Ebbe. Ich laufe hinaus auf dem noch feuchten Spiegel aus Sand, der Boden federt unter meinen Schritten. Auf einer Steinbuhne sitzt ein Schwarm Möwen und hält seinen Morgentreff. Immer mal wieder flattert eine auf und begutachtet, was die Flut über Nacht angetrieben hat.


Auf der anderen Seite der Gleise, hinter der Straße, schlängeln sich Spazierwege durch ein Dünenfeld. Landeinwärts liegen weite Polder, eine wohltuende Lücke in der sonst ziemlich verbauten belgischen Küste. Nur der Flughafen stört ein wenig das Bild.
Zeugen im Sand
Mit der Tram geht es nun auf die letzte Etappe. In Nieuwpoort machen wir einen weiten Bogen um die Mündung der Yser, die bereits in Frankreich entspringt. Fischhallen ziehen vorbei, eine Art Schleusen-Drehkreuz und ein riesiges Denkmal für einen der belgischen Könige, die meistens Albert oder Leopold heißen.
Es geht mitten durch die Dünen, aus denen bizarre Bunkerreste aufragen. Stumme Zeugen für Hitlers letzten Versuch, mit Millionen Tonnen Beton und Stahl den Einmarsch der Alliierten noch aufzuhalten. In Oostduinkerke, wo einer der vielen Stopps liegt, die einfach nur „Bad“ heißen, blitzt in einer Lücke in der Häuserzeile wieder das Meer auf.

Wir erreichen das Zentrum von De Panne, die Tram leert sich. Die Esplanade huldigt einem weiteren Leopold, am Ufer dann wieder das bekannte Bild: Strand, Promenade, Apartmenthäuser. Der Öltanker am Horizont dümpelt bereits vor Dünkirchen. Ein kleiner Gang durch den Sand, und ich wäre in Frankreich. Trotzdem liegt De Panne, wie die gesamte Küste, in Flandern, also dem niederländischsprachigen Teil Belgiens.
Ein kleines Stück geht es noch weiter mit der Kusttram. Das Gleis knickt ab nach Süden, weg vom Meer. Der Abschnitt zum Bahnhof De Panne wurde erst Ende der Neunziger eröffnet. Es geht vorbei am Vergnügungspark Plopsaland, dann erreichen wir die Endstation. Die Tram hält direkt neben dem Bahnsteig. Nach einer kurzen Pause fährt sie zurück nach Knokke.
Der Wind trägt Schreie aus der Achterbahn herüber. Ein Zug fährt ein, jede Stunde gibt es eine Verbindung nach Gent und Antwerpen. Ich steige aber wieder in die Tram. Denn die Fahrt mit der Straßenbahn am Meer – die muss ich noch einmal erleben.
Praktische Tipps
Anreise
Eine Fahrt mit der Kusttram ist ein wunderbares kleines Bahnabenteuer und eignet sich gut für einen Wochenendtrip. Die Anreise führt fast immer über Brüssel, von hier gibt es regelmäßig Zugverbindungen nach Knokke, Ostende und De Panne. Übergang ins belgische Bahnnetz besteht außerdem in Blankenberge und Zeebrügge.
Strecke
Die Kusttram gilt als längste Straßenbahn der Welt. Die Strecke führt von Knokke nach De Panne die gesamte belgische Nordseeküste entlang. Dabei geht es durch Zeebrügge, Blankenberge, De Haan, Ostende, Middelkerke, Nieuwpoort und Koksijde. Insgesamt gibt es 67 Haltestellen.
Fahrplan
Tagsüber fährt je nach Saison alle 10, 15 oder 20 Minuten eine Tram, abends alle 30 Minuten. Die gesamte Fahrt von Knokke nach De Panne dauert 2 Stunden und 25 Minuten. Wichtigster Halt ist der Bahnhof Ostende, hier haben alle Bahnen ein paar Minuten Aufenthalt.
Tickets
Die Kusttram ist Teil der flämischen Verkehrsbetriebe De Lijn. Eine Einzelfahrt kostet 3 Euro, ein Tagespass 9 Euro. Man kann einfach einsteigen und seine Bankkarte an den weißen Terminals tappen. An größeren Stationen gibt es am Automaten auch Papierfahrkarten. Diese müssen bei Fahrtantritt kurz an eines der gelben Terminals an Bord gehalten werden.
Ausstattung
Die Kusttram ist eine normale Straßenbahn ohne Toiletten und besonderen Komfort für längere Fahrten. Es gibt Stellplätze für Fahrräder und Kinderwagen. Die Fahrradmitnahme kostet extra.
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