Schweden plant Nachtzüge nach Mitteleuropa! Als diese Nachricht im Sommer 2019 die Runde machte, war ich sofort Feuer und Flamme. Ich lebte gerade in Linköping, knapp zwei Zugstunden südlich von Stockholm, und die Vorstellung, abends in den Schlafwagen zu steigen, um Freunde und Familie zu besuchen, elektrisierte mich. Und tatsächlich: Im Jahr darauf wurde eine Ausschreibung gestartet, noch ein Jahr später erhielt die schwedische Bahn SJ den Zuschlag für einen Nachtzug von Hamburg nach Stockholm.
Die Premiere im September 2022 war jedoch ernüchternd. Der SJ EuroNight, wie er getauft wurde, bestand zunächst nur aus zwei Liegewagen, die dänischen Behörden hatten den Schlafwagen die Zulassung verweigert. Inzwischen war ich nach Finnland gezogen, und auch die Hoffnung, der Nachtzug würde einen sinnvollen Anschluss an die Fähren über die Ostsee bieten, erfüllte sich nicht. Hinzu kamen weitere Kinderkrankheiten sowie die berüchtigten schwedischen Baustellenfahrpläne, die dem Zug zu schaffen machten.
Nach und nach stabilisierte sich der Betrieb. Die ersehnten Schlafwagen kamen hinzu, die Strecke wurde sogar bis Berlin verlängert. Nun war es persönliches Pech, das mich von einer Mitfahrt abhielt. Zweimal hatte ich ein Ticket in der Tasche, zweimal musste ich es wieder stornieren – wegen Streiks und anderer Hindernisse. Eine fast schon slapstickhafte Pannengeschichte.
So hat es sage und schreibe fünf Jahre gedauert, bis ich in diesem Sommer endlich einmal selbst auf dem Bahnsteig stehe.
Hamburg, Tor zur Welt
Hamburg Hauptbahnhof, kurz vor halb zehn. Es ist ruhig an diesem Dienstagabend, fast friedlich. Wer den geschäftigsten aller deutschen Bahnhöfe sonst nur aus der Rushhour kennt, dürfte sich verwundert die Augen reiben.
An Gleis 8 hat sich eine kleine, verschworene Gemeinschaft eingefunden. Schwere Rucksäcke, in der Luft ein Hauch von Aufregung. Eine Fahrt im Nachtzug ist immer auch ein kleines Abenteuer, das man gemeinsam erlebt. Manche von uns werden sogar das Schlafzimmer miteinander teilen. Gegenüber verspricht ein Regionalexpress den echten Norden, und meint damit Schleswig-Holstein. Für uns geht es heute Nacht deutlich weiter hinauf.
Ich muss lächeln, als ich die ersten Brocken Finnisch auf dem Bahnsteig aufschnappe. Nach ein paar Wochen unterwegs in Europa fühlt es sich ein wenig wie Nachhausekommen an. Für den Nachtzug mag Hamburg nur noch eine Durchgangsstation sein, für Zugreisende aus Nordeuropa bleibt es das Tor zur Welt. Egal, ob ihre Reise in Dänemark, Schweden, Norwegen oder Finnland beginnt – durch Hamburg müssen sie alle. Von hier schwärmen sie aus, hier kommen sie auf dem Rückweg wieder zusammen.
Pünktlich gegen 22 Uhr rollt der Nachtzug in die Gleishalle ein. Fünf Wagen sind es an diesem Abend. Blau wie ein schwedischer See, mit einer grünen Insel, auf der das Logo der SJ prangt. Das sieht hübsch aus, könnte aber mal wieder etwas Liebe vertragen. „Saubermachen!“ hat jemand mit Finger in den Schmutzfilm an meinem Schlafwagen geschrieben.
Erster Eindruck
Wer in diesem Zug die komfortablen und geräumigen Wagen aus Schweden erwartet, wird enttäuscht sein. Stattdessen gibt es, was der europäischen Gebrauchtmarkt hergab. Mein Schlafwagen stammt ursprünglich aus Österreich, die beiden Liegewagen nebenan aus Altbeständen der Deutschen Bahn. Alles ist deutlich in die Jahre gekommen und wirkt ein wenig zusammengewürfelt – als hätte man zum Schluss nur schnell die grünen SJ-Aufkleber draufgepappt.
Das ist sinnbildlich für diesen Nachtzug. Tatsächlich wird er nicht von der schwedischen Bahn selbst betrieben, sondern von einem deutschen Leasingunternehmen, das auch das Personal stellt. Zuvor waren die Wagen im Alpen-Sylt-Nachtexpress im Einsatz, daher die blaue Farbe.
Es ist einer dieser Momente, die man nicht nur, aber besonders im Nachtzug erlebt
Mein Abteil teile ich mit einem freundlichen älteren Herrn aus Schweden. Ich überlasse ihm das untere Bett – nach oben ist es doch eine ziemliche Kraxelei, und die Leiter entdecken wir erst später. Er spricht Deutsch, ich spreche Schwedisch, und so wir führen unsere Unterhaltung mal auf der einen, mal auf der anderen Sprache. Es ist einer dieser europäischen Momente, die man nicht nur, aber besonders im Nachtzug erlebt.
Ohne erkennbaren Grund stehen wir noch lange am Bahnsteig und handeln uns so eine Dreiviertelstunde Verspätung ein. Normalerweise ist mir das im Nachtzug egal, doch in diesem Fall bedeutet es, dass wir die dänische Grenze erst weit nach Mitternacht erreichen. Eigentlich nicht der Rede wert, doch im Europa des Jahres 2024 sollen wir unsere Pässe bereithalten, wie das Zugteam über Lautsprecher verkündet, und uns auf eine Kontrolle einstellen.
Durch die Nacht
Als wir losrollen, kommt die junge Zugbegleiterin vorbei und kontrolliert die Tickets. Die Bordsprachen sind auf diesem Abschnitt Englisch und Deutsch, schwedischsprachiges Personal steigt erst am Morgen in Malmö zu. Ich reise wie üblich mit Interrail, die zusätzliche Reservierung für das Zweierabteil im Schlafwagen hat mich umgerechnet 72 Euro gekostet – ein fairer Preis, der allerdings auch der schwachen Krone geschuldet ist.
Es wird schnell ruhig im Zug. Einen Speisewagen gibt es nicht, also hat man außer dem Gang zur Toilette wenig Gründe, das Abteil zu verlassen. Ich putze mir noch rasch die Zähne am kleinen Waschbecken und ziehe mich auf mein Bett zurück.
Beachtliche 1160 Schienenkilometer legt der SJ EuroNight zurück
Beachtliche 1160 Schienenkilometer legt der SJ EuroNight von Hamburg nach Stockholm zurück, ab Berlin sogar noch ein paar hundert mehr. Dass er sie in einem Rutsch durchfahren kann und nicht mehr unterwegs auf eine Fähre verladen werden muss, wie einst der Nachtzug „Alfred Nobel“, der die Strecke bis 1994 bediente, liegt an zwei herausragenden Bauwerken: der Brücke über den Großen Belt in Dänemark und der Öresundbrücke hinüber nach Schweden. Wir werden sie allerdings mitten in der Nacht passieren.
Auch der erste architektonische Höhepunkt, die Rendsburger Hochbrücke, fällt heute der Dunkelheit zum Opfer. Ist der Zug planmäßig unterwegs, lässt sie sich zumindest im Sommer noch im letzten Abendlicht erspähen. Am schönsten aber ist es in der Gegenrichtung, also von Stockholm nach Hamburg: Das Spektakel, wie der Zug sich erst in einer Kehrschleife über die Dächer der Stadt hinaufschraubt, um dann in schwindelerregender Höhe den Nord-Ostsee-Kanal zu überqueren, fällt dann in die frühen Morgenstunden.
Endlich erreichen wir Padborg und damit die dänische Grenze. Ich liege im Halbschlaf auf meinem Bett, den Pass in den Händen umklammert, und es passiert: nichts. Fehlalarm, offenbar fällt die Grenzkontrolle heute aus. Oder ich habe sie in einem Dämmerzustand über mich ergehen lassen und sofort wieder vergessen. Sei’s drum, nun ist wirklich Schlafenszeit. Ich sage leise „God natt!“ zu meinem Abteilgenossen und drehe mich um.
Der Morgen danach
Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind wir irgendwo zwischen Skåne, der südlichsten Landschaft Schwedens, und Småland, dem Schauplatz der berühmten Geschichten von Astrid Lindgren. Die Nacht war recht unruhig, unser Abteil am Wagenende liegt direkt über den ratternden Drehgestellen. Zudem fand ich es relativ warm und stickig. Ich bin deshalb immer mal wieder wach geworden und habe insgesamt mäßig gut geschlafen.
Bis hierhin ist es eine Nachtzugfahrt, die ich allenfalls als „okay“ bezeichnen würde, was irgendwie zu meiner bisherigen Geschichte mit diesem Zug passt. Meinen Frieden mache ich schließlich doch noch, als ich bei einer Runde durch den Zug etwas entdecke: In Malmö wurden zwei zusätzliche Wagen angehängt – ein Bistrowagen sowie ein plüschiger Sitzwagen schwedischer Bauart.
An der Bistrotheke hole ich mir die Frühstücksbox ab, die für Schlafwagengäste im Preis inbegriffen ist, und setze mich in den Wagen nebenan. Und ausgerechnet dieser Sitzwagen wird zu meinem Highlight der Fahrt! Wie es sich für einen Eisenbahnwagen in Nordeuropa gehört, ist er überaus geräumig und bietet Komfort ohne Kompromisse. Gemütlich und in aller Ruhe widme ich mich dem Frühstück, bei dem jede noch so kleine Zutat in winzigen Schächtelchen verpackt ist.
Draußen wechseln sich glitzernde Seen mit roten Holzhäusern ab
Mit jedem Meter, den wir uns Stockholm nähern, werden die Lücken zwischen den Wolken größer, und die Morgensonne scheint durch die großen Fenster hinein. Draußen wechseln sich glitzernde Seen mit roten Holzhäusern ab, aus denen jeden Moment Pippi, Michel oder Lotta stürmen könnten.
Die letzte Stunde der Fahrt verbringe ich in einem der Liegewagen, in denen man die Fenster am Gang noch öffnen kann. Immer wenn gerade niemand vorbeikommt, schiebe ich die Scheibe hinunter und halte meine Nase in den nicht mehr ganz frühen Vormittag. Zu weit sollte man den Kopf oder sein Handy allerdings nicht hinausstrecken – auf der südlichen Stammbahn ist der Zug flott unterwegs, und immer wieder rauscht ein Gegenzug im Höllentempo vorbei.
Wir erreichen den Hauptbahnhof von Stockholm schließlich um kurz vor halb zwölf, mit etwa 90 Minuten Verspätung. Mir soll es recht sein, bis zu meiner Fähre habe ich noch einige Stunden zu überbrücken. Ich verabschiede mich von meinem Mitreisenden, er wünscht mir eine gute Überfahrt nach Finnland, und so verlieren wir uns im Gewusel der schwedischen Metropole.
Fazit
Der SJ EuroNight ist nicht der Zug, von dem ich geträumt habe. Er spiegelt wider, was in Europa derzeit in Sachen Nachtzug möglich ist. Und doch ist es gut, dass es ihn gibt. Ich schätze es sehr, dass versucht wird, das Beste aus den vorhandenen Möglichkeiten herauszuholen – etwa mit dem Bistrowagen, der unterwegs angehängt wird. Wer sich darauf einlässt, kann im Nachtzug nach Stockholm einige schöne Momente auf Schienen erleben.
Würde ich wieder mit dem SJ EuroNight fahren? Vermutlich nicht so bald, da sich der Zug nur schwer in eine Reisekette von oder nach Finnland integrieren lässt. Ist euer Ziel jedoch Stockholm, würde ich die Mitfahrt durchaus empfehlen. Besonders mit Interrail ist der Nachtzug auch preislich attraktiv.
Praktische Tipps
Strecke
Der SJ EuroNight fährt täglich zwischen Berlin, Hamburg und Stockholm. Weitere Halte in Schweden sind Malmö, Lund, Hässleholm, Alvesta, Nässjö, Linköping und Norrköping. Die Fahrzeit von Hamburg nach Stockholm beträgt planmäßig 12 Stunden, von Berlin sind es 15,5 Stunden.
Komfort an Bord
Der Nachtzug verfügt über Schlafwagen, Liegewagen und Sitzwagen. Im Schlafwagen gibt es zwei 1.-Klasse-Abteile, diese haben ein eigenes Bad mit Dusche und WC. Ansonsten gibt es keine Duschmöglichkeit. Zwischen Malmö und Stockholm ist außerdem ein Bistro am Zug. Im Liegewagen gibt es ein barrierefreies Abteil. Fahrradmitnahme ist nicht möglich.
Tickets und Preise
Fahrkarten sind online auf sj.se erhältlich. Die Preise sind dynamisch und starten bei etwa 80 € für einen Platz im Liegewagen und 140 € im Schlafwagen. Interrail gilt, erfordert aber in allen Komfortkategorien eine zusätzliche Reservierung. Auch diese gibt es online bei der SJ. Achtung: Fahrkarten und Reservierungen werden oft erst kurzfristig zur Buchung freigegeben.
Alternativen
In einer erweiterten Sommersaison verkehrt zwischen Berlin und Stockholm auch der private Snälltåget. Dieser bietet nur Liegewagen, dafür innerhalb Schwedens einen vollwertigen Speisewagen. Ein Geheimtipp ist der SJ-Nachtzug Malmö–Stockholm: In seinen komfortablen Schlafwagen gibt es oft kurzfristig noch Plätze, und der Fahrplan passt zu den Finnland-Fähren.
Ein herzlicher Dank geht an Florian Danker, der einige seiner großartigen Fotos für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt hat. Schaut unbedingt auch einmal auf Flos Website vorbei, dort findet ihr noch mehr faszinierende Eindrücke von Zugreisen aus ganz Europa.
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