Hallo Zugfans 👋

Wenn Jon Worth mit seinem Klapprad durchs Baltikum fährt, hat das etwas Tragikomisches. Der Eisenbahn-Grenzgänger ist auf Spurensuche entlang der Rail Baltica. Wo eigentlich längst Bahnhöfe entstehen und Schienen verlegt werden sollten, findet er leere Äcker, verlassene Werbetafeln und grüne Wiesen. Hier und da gibt es zwar auch Fortschritte, etwa am neuen Bahnhof Ülemiste in Tallinn, doch dazwischen geht es bestenfalls schleppend voran.

Die Rail Baltica ist eine 870 Kilometer lange Bahnstrecke, die Tallinn mit Warschau verbinden soll. Geht es nach der EU, die das Projekt größtenteils finanziert, sollen die Züge bis 2030 rollen. Kaum vorstellbar, dass dieses Datum zu halten ist. Und welche Züge überhaupt? Auch das ist bisher völlig ungeklärt.

Dabei verspricht die Rail Baltica nichts weniger als eine Revolution.

In Estland, Lettland und Litauen hat die Eisenbahn einen langen Niedergang hinter sich. Auf Fernstrecken wurde sie nahezu vollständig vom Bus verdrängt. Was es bedeutet, trotzdem mit dem Zug durchs Baltikum zu reisen, habe ich im vergangenen Jahr erlebt: Auf meiner Reise auf dem Landweg von Finnland nach Deutschland war ich fast eine Woche unterwegs – und musste dabei so manches Abenteuer bestehen, etwa eine halblegale Grenzüberquerung zu Fuß.

In unmöglicher Mission: Mit dem Zug durchs Baltikum
Von Helsinki nach Berlin über Estland, Lettland, Litauen und Polen.

Mit der Rail Baltica könnte das bald der Vergangenheit angehören. Sie hat das Potenzial, die Landkarte Europas grundlegend zu verändern. Innerhalb weniger Stunden zwischen Tallinn, Riga und Vilnius pendeln? In Berlin in den Nachtzug steigen und am nächsten Morgen an der Finnischen Bucht aufwachen? Das sind Visionen, die zurecht für Euphorie sorgen.

Woran liegt es also, dass es stockt?

Ein aktueller Bericht der BBC hat die Rail Baltica wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Von explodierenden Kosten ist da die Rede. Das ist sicher ein Faktor, greift aber als alleinige Erklärung zu kurz.

Mehr in die Tiefe geht der Dokumentarfilm „Rail Baltica – Ein Zug für Europa“, der Anfang des Jahres etwas versteckt im Nachtprogramm von Arte lief. Darin begleiten wir den lettische Filmemacher Kārlis Lesiņš bei seinen Recherchen kreuz und quer durchs Baltikum. Aus seinen Begegnungen mit Verantwortlichen und Betroffenen lassen sich drei Hauptprobleme ableiten:

1. Drei Länder, drei Projekte

Aus der Ferne mögen die baltischen Staaten wie eine Einheit wirken. Doch Estland, Lettland und Litauen sind drei eigenständige Länder mit unterschiedlichen Sprachen und kulturellen Eigenheiten.

Und gegenseitigen Vorbehalten.

„Die Litauer sind echte Schurken“, sagt etwa die ehemalige Geschäftsführerin der Rail Baltica, eine Lettin. Die Litauer wiederum werfen Lettland und Estland Bummelei vor. Jede Nation hat ihre eigene Planungsgesellschaft. Statt zusammenzuarbeiten, ringen sie um Geld und Kompetenzen. Als wäre das nicht schon kompliziert genug, mischen auch noch Unternehmen aus ganz Europa mit – darunter die Deutsche Bahn, die die Elektrifizierung übernimmt.

Das Ergebnis ist ein verworrenes Geflecht, in dem die linke Hand oft nicht weiß, was die rechte tut. Grenzüberschreitender Bahnverkehr ist ohnehin komplex. Wenn die beteiligten Länder nicht an einem Strang ziehen, wird er zur Herkulesaufgabe.

Schotterstraße mit Staubwolke und Baustellen-Schild
Järvakandi, Estland: Hier soll mal ein Bahnhof stehen. Foto: Jon Worth, CC BY

2. Schlechte Kommunikation

Die Informationspolitik der Rail Baltica ist, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Nicht nur für Außenstehende, selbst für die Menschen vor Ort ist es schwer, Einblick in den Projektfortschritt zu bekommen.

So sind für den Bau der Strecke etwa 4000 Enteignungen nötig. Doch die Betroffenen werden seit Jahren im Unklaren gelassen. In Lettland war Ende 2022 erst jedes zehnte Grundstück enteignet. Dem lettischen Verkehrsminister ist das sichtlich unangenehm. Überhaupt wirkt es in der Doku, als habe er wenig Einblick in diese Vorgänge. Dass die Eröffnung der Rail Baltica von ursprünglich 2026 auf 2030 verschoben wurde, will er erst bei Amtsantritt erfahren haben.

In der Bevölkerung schafft man so kein Vertrauen. Im Gegenteil: Es gibt Unverständnis und Proteste. Dabei braucht es für ein Projekt dieser Größenordnung einen breiten Rückhalt.

3. Die Rolle Russlands

Was ist, wenn einige Probleme der Rail Baltica auf Einflussnahme von außen zurückgehen? Dieser heiklen Frage widmet sich die Doku im letzten Drittel. Gemeint ist natürlich Russland. Anders als sonst im Baltikum wird die Rail Baltica nicht in Breitspur gebaut, sondern in der europäischen Normalspur. Als Symbol steht sie für die Anbindung an Europa – und die Abkehr von Russland.

Einmal fertig gestellt, lassen sich auf der Rail Baltica Truppen und militärische Ausrüstung aus ganz Europa bis an die russische Grenze befördern. Wenn es ein Land gibt, dem die Strecke ein Dorn im Auge ist, dann ist es Russland.

Die Doku berichtet von Protestaktionen, die vom russischen Geheimdienst unterstützt werden. Von Projektgeldern, die über undurchsichtige Firmennetzwerke in Russland versickern. Und von Geschäftsleuten im Baltikum, die für Putins Regime entlang der Bahnstrecke spionieren. Klar ist: Die hybride Kriegsführung ist längst auch im Baltikum angekommen. Für die Fertigstellung des Megaprojekts dürfte das zumindest nicht hilfreich sein.

Zwei Schotterstraßen im Wald
Skulte, Lettland: Auch hier sollen Züge auf der Rail Baltica halten. Foto: Jon Worth, CC BY

Viele Fragen, keine Antworten – und doch ein bisschen Hoffnung

Am Ende geht es mir wie Jon Worth, der in einem seiner Videos ernüchtert feststellt: Die Rail Baltica bleibt ein verwirrendes Projekt, das viele Fragen aufwirft, aber nur wenige Antworten gibt. Ich jedenfalls habe meine Zweifel, dass ich in fünf Jahren in Tallinn in einen Zug nach Berlin steigen kann.

Und doch ist der Zugverkehr im Baltikum nicht ohne Hoffnung. Die Eisenbahnen in Estland, Lettland und Litauen scheinen allmählich zu erkennen, dass auch ohne die Rail Baltica einiges möglich ist. An Gleisen, Zügen und Personal mangelt es schließlich nicht. Und tatsächlich: Ausgelöst durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine scheint man wieder näher zusammen zu rücken.

Seit meinem letzten Besuch hat sich die Situation bereits verbessert. Ende 2023 wurde der Zugverkehr zwischen Vilnius und Riga wieder aufgenommen. Für das kommende Jahr sind weitere Verbindungen von Riga nach Tartu und von Vilnius nach Daugavpils geplant. Die groteske Situation, dass Reisende die Grenze zu Fuß überqueren müssen, könnte damit bald Geschichte sein.

Vielleicht liegt so im Schlamassel um die Rail Baltica auch eine Lektion: Statt einen großen Schritt zu machen, erreicht man sein Ziel manchmal auch mit vielen kleinen.


Hoffnung brauchte auch ich auf meiner Fahrt nach Lappland, von wo ich euch heute schreibe. Schneesturm Jari fegte über Finnland hinweg und sorgte dafür, dass mein Nachtzug wegen einer heruntergerissenen Oberleitung sechs Stunden feststeckte. Am Ende ging alles gut – die finnische Bahn spendierte mir für das letzte Stück sogar ein Taxi. Einige Eindrücke habe ich auf Mastodon und Bluesky geteilt.

Apropos Bluesky: Ich bin absolut überwältigt, wie viele von euch der Einladung aus dem letzten Newsletter gefolgt sind und über mein Starter Pack dem Netzwerk beigetreten sind. Ich freue mich auf viele wunderbare Beiträge zum Thema Zugreisen!

Nicht ganz so erfreulich sind die Nachrichten in der Kurzstrecke: Das Aus für den Nachtzug von Zürich nach Barcelona ist nun leider besiegelt. Dafür erwartet euch im Mitgliederbereich ein besonderer Schienenmoment aus Kanada.

Habt ein schönes Wochenende!

– Sebastian

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