Wenn ich mit dem Zug durch Europa reise, denke ich oft: Oh, hier gibt es aber tolle Bahnhöfe! Und damit meine ich nicht nur architektonisch beeindruckende Bauwerke, sondern Orte, die Aufenthaltsqualität bieten. Orte, an denen man sich wohl und willkommen fühlt. Vielleicht liegt es an meiner Prägung aus Deutschland, dass mir das so positiv auffällt. Und auch meine Wahlheimat Finnland tut sich in Sachen Bahnhöfe nicht gerade hervor.

Manche mögen sagen: Bahnhöfe? Mir egal, ich will nur schnell zum Zug! Für sie sind Bahnhöfe bloß Durchgangsstation. Schnell rein, schnell zu Gleis 3, schnell wieder raus. Der Bahnhof als Nicht-Ort.

Mir geht das nicht so. Bahnhöfe haben mich schon immer fasziniert. Als ich klein war, schauten wir uns in einer fremden Stadt immer auch den Bahnhof an. Seitdem sind für mich Städte untrennbar ihren Bahnhöfen verbunden. Städte sind Bahnhöfe. Bevor ich den Bahnhof nicht besucht habe, habe ich eine Stadt nicht gesehen. Für eine kurze Stippvisite am Bahnhof würde ich den Marktplatz oder die Fußgängerzone jederzeit links liegen lassen.

Kathedralen des Zugreisens

Als der Zug noch das wichtigste Verkehrsmittel war, dachte man groß. Man versteckte Bahnhöfe nicht in der Peripherie, sondern pflanzte sie ins Herz der Stadt. Oft definierten sie das Zentrum überhaupt erst. Wo der Bahnhof ist, ist die Mitte.

In Bahnhöfen verewigten sich die größten Architekten. Sie schufen fulminante Bauten. Lichtdurchflutete Hallen, die an Kirchenschiffe erinnern. Die größten und schönsten von ihnen sind wie Kathedralen. Die Bahnhöfe von Prag und Budapest kommen einem in den Sinn. Milano Centrale mit seinen gigantischen Ausmaßen. Und natürlich der Gare du Nord in Paris mit dem vielleicht großartigsten Blick auf die Gleise. Es sind ikonische Orte, die in jedem Reiseführer verzeichnet sind.

Tschechischer Zug am Bahnhof Praha hlavní nádraží
Praha hlavní nádraží, der Hauptbahnhof von Prag

Bahnhöfe waren nicht nur Zugangsstellen, sondern auch Stätten der Begegnung. Um euch von der guten, alten Zeit zu erzählen, bin ich zu jung. Aber für eine kleine Zeitreise schaue ich gerne ältere Filme. Im Text zu einer Folge der Reihe „Tatort“ aus den 1970er Jahren heißt es etwa:

„An einem Abend im Oktober 1970 lernen sich im Wartesaal des Bremer Hauptbahnhofes zufällig vier Männer kennen. Völlig unabhängig voneinander sind sie nach Bremen gekommen. (…) Nach einigen Gläsern verstehen sich die vier bereits recht gut. Einer von ihnen lädt zu immer neuen Lokalrunden ein. Man beschließt, den angebrochenen Abend miteinander zu verbringen.“

Dass das nicht gut ausgeht, ist klar, es ist schließlich ein Kriminalfilm. Aber: Fremde Menschen? Die sich kennenlernen? Im Wartesaal?

Aus heutiger Sicht wirkt das beinahe utopisch.

Kulturelle Unterschiede

Ich habe meine Freundin gefragt, was sie mit Bahnhöfen verbindet. Sie erzählte von Tampere, dessen Bahnhof sie nicht nur besuchte, um mit dem Zug zu fahren. Von kleinen Stationen auf dem Land, die zusehends verfallen. Und natürlich von R-kioski, der Kioskkette, die es heute in Finnland an jeder Ecke gibt und die einst als Bahnhofsbuchhandlung startete. Das „R“ stand ursprünglich für Rautatie – Eisenbahn. Ob es daran liegt, dass ich an keiner Filiale vorbeigehen kann, ohne einen Kaffee zu trinken und eine Pulla zu essen?

In Deutschland faszinierte sie, dass es an Bahnhöfen Spargelstände gibt. Und dass man auf dem Bahnsteig eine Tafel Ritter Sport aus dem Automaten ziehen kann. Aber auch: dass man dafür Bargeld braucht. So spiegeln Bahnhöfe immer auch ein Stück weit kulturelle Unterschiede wider. Sie sind nicht nur Visitenkarte ihrer Stadt, sondern auch des Landes, in dem sie stehen.

Bahnhof Corrour vor einem Berg
Bahnhof Corrour in den schottischen Highlands

Besonders liebe ich Bahnhöfe in Großbritannien. Das fängt schon an, wenn man in London am Bahnhof St Pancras aus dem Eurostar steigt. Was für eine Gleishalle! Das ganze Theater um Check-in und Passkontrollen ist da bald vergessen.

Auch sonst wird den Zügen und ihren Reisenden der rote Teppich ausgerollt. Blumen, Warteräume und Teestuben gehören hier zum guten Ton. Alles ist liebevoll gepflegt, oft von Eisenbahnfans in ihrer Freizeit. Und natürlich gibt es Fahrkartenschalter. Als im letzten Jahr die Abschaffung der Ticket Offices drohte, rollte eine Welle des Protests durchs Land und fegte die Pläne schnell wieder vom Tisch.

In Italien haben Bahnhöfe oft Marmorfußböden. Auch hier gibt es selbst an kleinen Stationen Personal vor Ort. Und eine Bar! Wenn ich in Italien unterwegs bin, habe ich eine goldene Regel: An jedem Bahnhof, an dem ich einsteige, umsteige oder aussteige, trinke ich einen Espresso. Es ist nur ein kurzer Moment, zwei oder drei Schlucke aus einer kleinen Tasse, und doch: ein kurzes Verweilen, ein Innehalten, das diesen Nicht-Ort zum Ort macht. In Tschechien und der Slowakei trinkt man statt Kaffee lieber Bier, aber das Prinzip ist das gleiche.

Deutschland fehlt diese Bahnhofskultur. Das ist schade, denn an schönen Bahnhöfen mangelt es nicht. Doch oft sind sie Shopping-Malls mit den immer gleichen Fast-Food-Ketten. Aufenthaltsbereiche gibt es kaum, und wenn doch, sind sie absichtlich so gestaltet, dass man sie unbequem findet. „Defensive Architektur“ nennt man das. Ein Begriff, der einen frösteln lässt wie die durchkärcherbaren Bahnsteige. Ein bisschen Komfort gönnt man nur Reisenden mit 1.-Klasse-Ticket. Sie erkaufen sich Zugang zur exklusiven Lounge, die es ohnehin nur in einigen Großstädten gibt.

Sehnsuchtsorte

Eine Lounge für alle gibt es dagegen am Bahnhof Fredericia in Dänemark, wo ich oft umsteige. Gut, es gibt hier kein Essen umsonst und keine Bedienung, aber sonst ist alles da, um es sich eine halbe Stunde oder mehr bequem zu machen – gemütliche Sofas, Zeitungen und eine Abfahrtstafel.

Manchmal werden Bahnhöfe selbst zum Reiseziel. Etwa wenn sie in einer besonderen Landschaft liegen, wie der Bahnhof Corrour inmitten der Einsamkeit der schottischen Highlands. Oft sind es gerade diese kleinen Stationen, die mein Herz besonders erwärmen. Orte, an denen die Zeit ein wenig stehen geblieben scheint. Wo es keine Hektik gibt, weil nur alle paar Stunden ein Zug vorbeikommt. Wo man in Ruhe auf dem Bahnsteig sitzen kann, ohne Angst, etwas zu verpassen.

Hausbahnsteig am Bahnhof von Breil-sur-Roya mit Stühlen
Bahnhof Breil-sur-Roya in den französischen Seealpen

Einen solchen Sehnsuchtsort entdeckte ich kürzlich in den französischen Seealpen. Hier verläuft die spektakuläre Tendabahn, eine der großen, wenn auch weniger bekannten Bergstrecken Europas. Im Örtchen Breil-sur-Roya teilt sich die Strecke in einen französischen und einen italienischen Ast.

Immer wieder kam ich am Bahnhof von Breil-sur-Roya vorbei, als ich im Sommer einige Tage entlang der Tendabahn verbrachte. Ich stieg aus und um, aß im fantastischen Bahnhofsbuffet und besuchte das Eisenbahnmuseum. Oft saß ich einfach nur da und betrachtete das Schauspiel, das sich bot, wenn wieder einmal der Zug aus Italien heranrollte – ein Zug, der, wenn es nach der französischen Bahn geht, gar nicht existiert. Doch dazu mehr in einer anderen Ausgabe der Zugpost.

Es sind Orte wie dieser, die für mich die Eisenbahn ausmachen. Orte voller Geschichte und Geschichten. Während ich sonst an dieser Stelle dazu aufrufe, mal wieder in den Zug zu steigen, möchte ich euch heute ans Herz legen: Schaut doch mal wieder an einem Bahnhof vorbei.

Welche Bedeutung haben Bahnhöfe für euch? Und was ist euer Lieblingsbahnhof? Schreibt mir gerne einen Kommentar!