Ein Dieseltriebwagen fährt hupend davon. Er gibt den Blick frei auf vier verlorene Gestalten. Sie stehen auf einem Bahnsteig, mitten im Nichts. „Now what?“, fragt der eine.

„We go for a walk!“, ruft der andere.

„What?“

Schnitt. Nun sehen wir die vier von hinten, vor ihnen türmt sich ein Gipfel auf, an seinen Hängen liegt noch Schnee.

Natürlich geht das nicht gut aus. Trainspotting ist kein Film über Züge und über Schottlands großartige Natur schon gar nicht. Und doch gibt es diese eine ikonische Szene. Seit sie zum ersten Mal über den Fernseher in meinem Jugendzimmer flimmerte, ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf.

Bahnsteig in Corrour
Auf diesem Bahnsteig spielte sich die legendäre Szene ab

Viele Jahre später saß ich mit meiner Freundin über der Reiseplanung für unseren Trip durch Großbritannien. Schottland sollte es sein und auch den Caledonian Sleeper wollten wir unbedingt ausprobieren.

Als wir dann bemerkten, dass man vom Nachtzug direkt in Corrour aussteigen kann, war klar: Das ist es.

Ein Blick zurück

Dass es Corrour überhaupt gibt, ist einigermaßen kurios.

Corrour liegt an der West Highland Line von Glasgow nach Fort William. Die Strecke ist eingleisig und führt auf langen Abschnitten durch unbewohntes Gebiet. Da es kaum Bahnhöfe gibt, wo sich Züge begegnen können, errichtete man mitten in der Wildnis einige Ausweichstellen.

Eine solche liegt am nördlichen Ende des Rannoch Moores, etwa eine Meile vom Ufer des Sees Loch Ossian – das heutige Corrour.

Da damals die Weichen per Hand bedient wurden, brauchte man einen Weichenwärter. Und der bekam für seinen Dienst ein Stellwerkhäuschen, die Signal Box, samt Anbau zum Wohnen. Der Anbau diente auch als Bahnpoststelle und Telegrafenamt.

Schild: Corrour Summit, 1350 ft (411 m) Above Sea Level
Corrour ist der höchstgelegene Bahnhof in Großbritannien
Im Vordergrund ein Gleis, im Hintergrund ein Berg
Direkt hinter dem Bahnsteig beginnt die wilde Natur
Gleis mit Weiche, im Hintergrund Berge
Züge begegnen sich heute nicht mehr in Corrour

Wenige Jahre zuvor hatte Sir John Stirling-Maxwell, ein schottischer Politiker und Philanthrop, am anderen Ende von Loch Ossian einen weitläufigen Landsitz gekauft. Sir John gestattete es der West Highland Railway Company, die Bahnstrecke nach Fort William über sein Land zu bauen. Unter einer Bedingung: Für ihn und seine Gäste, die insbesondere zur Jagdsaison zahlreich auf sein Gut strömten, sollte es einen eigenen Bahnhof geben.

So wurde im August 1894 neben der Bahnstrecke samt Ausweichstelle und Signalbox auch die Corrour Station eröffnet.

Mit dem Privatbahnhof wurde es aber nichts. Schon bald bekam die Öffentlichkeit von dem Halt in Corrour Wind und begann ihn für Ausflüge in die Natur zu nutzen. Bis Corrour offiziell in den Fahrplänen auftauchte, sollte es aber noch bis 1934 dauern.

Corrour Station House

So ging es einige Jahrzehnte dahin, ehe die Modernisierung der Eisenbahn auch in den schottischen Highlands Einzug hielt.

Weichenwärter und Bahnpoststelle verließen Corrour, der Bahnhof aber blieb. Ende der 1990er-Jahre, kurz nach den Dreharbeiten zu Trainspotting, wurde sogar ein neues Bahnhofsgebäude gebaut.

Corrour Station House
Das Corrour Station House ist heute ein Restaurant

Nach einigen Betreiberwechseln – unter anderem diente der Bahnhof eine Zeit als Jugendherberge – ist das Corrour Station House heute ein liebevoll eingerichtetes und gemütliches Bahnhofsrestaurant (Website).

Das Station House hat von Ende März bis Anfang November täglich geöffnet. Es gibt Frühstück, Mittagessen und Abendessen und – so viel sei verraten – das Essen ist wirklich fantastisch und die Portionen so groß, dass sie auch den hungrigsten Wanderer satt machen.

Bar im Corrour Station House
Die gemütliche Bar im Corrour Station House
Eine Portion Porridge mit Honig und Früchten
Im Station House gibt es Frühstück
Ein Teller Fish and chips und im Hintergrund Getränke
Mittags und abends kann man aus einer kleinen aber feinen Karte wählen
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Einen spannenden Blick hinter die Kulissen des Station House bietet diese Dokumentation von Vicki und Geoff, die im Projekt All The Stations alle Bahnhöfe Großbritanniens bereist haben.

Eine Handvoll Züge erreicht Corrour am Tag, darunter der Caledonian Sleeper, mit dem wir direkt aus London angereist sind. Außerdem gibt es Züge aus Glasgow, die weiter nach Fort William fahren und üblicherweise bis Mallaig durchgebunden werden.

Etwa 12.000 Reisende kommen so im Jahr nach Corrour – und sichern damit die Existenz des Station House. Mit dem Auto ist der Bahnhof nicht erreichbar, die nächste öffentliche Straße ist viele Kilometer entfernt.

Caledonian Sleeper: Im Nachtzug nach Schottland
Der Caledonian Sleeper von London nach Schottland gilt als einer der besten Nachtzüge in Europa. Hält er, was er verspricht? Die Zugpost ist mitgefahren.

Über Nacht in der Signal Box

Corrour eignet sich perfekt für einen Tagesausflug. Von Glasgow dauert die Fahrt drei Stunden, die Züge sind so getaktet, dass ihr etwa sieben Stunden Aufenthalt in Corrour habt. Genau richtig für eine Wanderung plus Einkehr im Station House, eingerahmt von zwei tollen Zugfahrten auf der West Highland Line.

Für das ganz große Corrour-Erlebnis könnt ihr aber noch einen Schritt weiter gehen. Vor ein paar Jahren hat das Team vom Station House die Signal Box renoviert und drei gemütliche Gästezimmer mit Bad geschaffen.

Richtig, ihr könnt dort übernachten, wo der Bahnwärter von Corrour einst seinen Dienst tat. Direkt am Gleis.

Die Signal Box zwischen den Gleisen
In der Signal Box gibt es drei Gästezimmer mit Bad

Zugegeben, ein nicht ganz günstiges Vergnügen, aber für zwei Nächte haben wir uns diesen Traum erfüllt. Untergekommen sind wir in Zimmer 1, MacCailin Mor, benannt nach einer Dampflokomotive.

Ein treffender Name. Denn wie sich herausstellte, ist MacCailin Mor die perfekte Bleibe für Zugfans: Es hat die Fenster zum Streckengleis, die Züge fahren also wortwörtlich durchs Schlafzimmer.

Was für ein Erlebnis!

Ein Doppelbett mit Kissen und Handtüchern
Unser Zimmer mit dem Namen MacCailin Mor
Ein blauer Zug, vom Fenster fotografiert
Alle paar Stunden kommt ein Zug von ScotRail vorbei

Doch damit nicht genug.

Über Zimmer 3, The Great Marquess, gibt es ein Wohnzimmer, das allen Übernachtungsgästen zur Verfügung steht. Es handelt sich um den ehemaligen Aussichtsturm der Signal Box, 360-Grad-Blick auf die Gleise und das spektakuläre Bergpanorama inklusive.

Die Gästezimmer werden nach dem Prinzip Bed and Breakfast betrieben, Frühstück im Restaurant ist im Preis inbegriffen (Infos und Buchung).

Aussicht mit der Station Box im Hintergrund
Ein absolutes Highlight ist das Wohnzimmer in der Signal Box
Aussicht auf das Gleis
Hier kann man die Abende verbringen und auf den Nachtzug warten
Blick auf die Berge, im Vordergrund ein kleiner See
Und auch der Blick auf das Bergpanorama ist einmalig

Rund um Loch Ossian

Und was macht man so in der Abgeschiedenheit? Wandern. Mountainbiken. Oder einfach nur dasitzen und die Natur genießen.

Wir hatten unverschämtes Glück mit dem Wetter, darum wollten wir so viel Zeit wie möglich draußen verbringen. Am ersten Tag machten wir uns auf eine Runde um Loch Ossian. Das sind etwa 12 Kilometer auf gut befestigten Wegen und ohne nennenswerte Steigungen.

Ein Schotterweg, im Hintergrund der See
Auf einem gut befestigten Weg geht es um Loch Ossian

Von der kargen Landschaft rund um den Bahnhof, wo kaum ein Strauch oder Baum wächst, fanden wir uns nach ein paar Kilometern plötzlich in einem Wald wieder. Sogar Rhododendren blühten am Wegesrand. Der Übergang zwischen den Vegetationszonen ist wie mit dem Lineal gezogen, wie wir später aus der Vogelperspektive feststellen sollten.

Auch hier wieder seine Finger im Spiel hatte Sir John Stirling-Maxwell, der sich nebenbei auch für Botanik interessierte.

Auf der östlichen Seite von Loch Ossian, rund um seinen Landsitz, ließ er Pflanzen aus aller Welt anpflanzen. Insbesondere Fichten scheinen sich in dem rauen Klima wohl zu fühlen. So erinnerte uns die Szenerie teilweise an die typische Seenlandschaft in Finnland.

Der Weg am Loch Ossian, im Hintergrund Bäume
Plötzlich wird es grün am Loch Ossian
Loch Ossian mit kleinen Inseln mit Bäumen, rechts im Hintergrund ein Haus
Rechts im Bild versteckt sich die Jugendherberge

Den See zu Fuß zu umrunden, war nicht immer so einfach. Der Weg wurde erst Jahre nach Eröffnung des Bahnhofs angelegt, zuvor waren Gäste mit einem Dampfschiff über den See gebracht worden. Das Bootshaus am westlichen Ufer dient heute als Jugendherberge.

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Das Loch Ossian Youth Hostel ist eine preiswerte Übernachtungsalternative in Corrour. Es gibt 2 Schlafsäle mit insgesamt 20 Betten. Das Hostel ist ganzjährig geöffnet.

Bagging a Munro

Menschen in Großbritannien haben lustige Hobbys. Besonders in Schottland verbreitet ist Munro-Bagging, das Sammeln oder „Einsacken“ von bestimmten Berggipfeln, die als Munro bezeichnet werden.

Munros sind Gipfel mit einer Höhe von mindestens 3000 Fuß, das entspricht etwa 914 Metern. Dazu gibt es noch ein paar andere Kriterien, die mit Prominenz bzw. Schartenhöhe zu tun haben. Wer was auf sich hält in Schottland, will sich eines Tages Munroist nennen können – so wird bezeichnet, wer im Laufe seines Lebens alle 282 Munros erklommen hat.

Corrour ist ein exzellenter Ausgangspunkt für diesen schottischen Volkssport. In unmittelbarer Nähe vom Bahnhof befinden sich einige leicht zugängliche und recht einfach zu begehende Gipfel.

Ein steiniger Weg führt zu einem Gipfel
Auf dem Weg zum Leum Uilleim

Natürlich wollten auch wir unser Glück versuchen, allein schon, um die grandiose Aussicht zu genießen.

Wir entschieden uns für den Leum Uilleim. Das ist der Gipfel, dessen Anstieg direkt am Bahnhof beginnt und den auch die Vier von Trainspotting im Visier hatten. Er lässt sich auf einer – laut Internet – nicht allzu schweren Rundstrecke mit gut 500 Höhenmetern begehen (Wegbeschreibung).

Ganz so einfach war es dann nicht. Zunächst ging es durch feuchtes Sumpfland (Tipp: wasserfestes Schuhwerk einpacken), weiter oben machte uns dann der harte Wind zu schaffen.

Aussicht mit Seen im Hintergrund
Auf dem Weg zum Gipfel gibt es tolle Ausblicke auf Loch Ossian
In der Nähe des Gipfels, im Hintergrund ein Schneefeld
Hier und da gab es auch Ende April noch etwas Schnee

Auch die Navigation war nicht immer leicht. Einen markierten Weg gibt es nicht, höchstens Trampelpfade, die mal besser, mal schlechter zu erkennen sind. Wichen wir auch nur wenige Meter davon ab, fanden wir uns in äußerst anspruchsvollem und steilen Gelände wieder.

Am Ende haben wir es aber geschafft und konnten den einmaligen Blick über das Rannoch Moor genießen.

Ein Steinhaufen markiert den Gipfel
Der Gipfel von Leum Uilleim
Bergpanorama mit schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund
Im Hintergrund türmen sich einige Riesen der Highlands auf

Ach ja: Als wir hinterher bei einer wohlverdienten Portion Fish and Chips im Station House saßen, fiel uns auf, dass der Leum Uilleim mit 909 Metern ganz knapp gar kein echter Munro ist, sondern ein Corbett.

Aber wer will schon kleinlich sein.

Corrour, eine Reise wert

Wir haben zwei unvergessliche Tage in Corrour verbracht. Die Magie dieses Ortes ist schwer in Worte zu fassen. Darum kann ich euch nur ans Herz legen: Schaut es euch selbst an!

Egal ob ihr nur auf eine Stippvisite vorbeikommt, oder um ein paar Tage in der Signal Box oder in der Jugendherberge zu verbringen: Wenn ihr in Schottland mit dem Zug unterwegs seid, solltet ihr euch einen Abstecher nach Corrour auf keinen Fallen entgehen lassen.

Nachtaufnahme vom Bahnsteig
Corrour bei Nacht, ein ganz besonderes Erlebnis

Zum Schluss noch ein besonderer Tipp: Durch seine abgeschiedene Lage ist Corrour einer der wenigen Orte, wo ihr euch noch weitgehend ohne Lichtverschmutzung den Sternenhimmel anschauen könnt. Die Fotografen unter euch sollten unbedingt ein Stativ im Reisegepäck haben.

Und wenn ihr ganz, ganz viel Glück habt, zeigt sich auch einmal das Nordlicht am Nachthimmel über Corrour.


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