Ein Städtchen in den Bergen. Eigentlich nur Durchgangsstation. Eine Nacht, am nächsten Morgen gleich weiter. Doch dann verlieben wir uns. In das Hotel am Bahnhof. Den urigen Italiener nebenan. Das goldene Licht, das am Abend auf die Gipfel fällt. Aus einer Nacht werden drei – und Abenteuer, von denen wir gestern noch keine Ahnung hatten.
Das ist für mich Interrail. Mit einem Pass statt festen Tickets und einem Reiseplan, in dem wir Dinge bewusst offen gelassen haben, können wir uns diesen spontanen Aufenthalt einfach erlauben.
Doch wo ist es noch möglich, so flexibel mit Interrail unterwegs zu sein? Hat die Reservierungspflicht in vielen Ländern die Idee von Interrail nicht längst kaputt gemacht? Oder kurz gesagt: Wo lohnt es sich überhaupt noch, mit Interrail zu reisen? Darum geht es in dieser Ausgabe der Zugpost.
Was heißt hier „lohnen“?
Interrail, das sind 33 Länder von Norwegen bis zur Türkei. Ein ganzer Zoo an Pässen mit Laufzeiten von 4 Tagen bis 3 Monaten. Und jedes Jahr über eine halbe Million Interrailer, die alle eine ganz eigene Vorstellung von der perfekten Reise haben.
Ihr seht schon, es ist verdammt schwer, hier allgemein gültige Aussagen zu treffen. Jeder Fall ist individuell, und ich kann euch die Entscheidung pro oder contra Interrail nicht abnehmen. Aber ich möchte euch ein paar Gedanken mit auf den Weg geben, die euch vielleicht dabei helfen.
Erstmal ist da die Frage: Was heißt überhaupt lohnen? Die naheliegende Antwort wäre wohl, die Zugreise durchzuplanen und den Preis regulärer Tickets mit dem eines Interrail-Passes samt eventueller Reservierungen zu vergleichen. Das ist aber gar nicht so einfach. Durch das Dynamic Pricing, das viele Bahnen inzwischen anwenden, ist es schwer zu sagen, was ein „normales“ Ticket überhaupt kostet. Was heute günstig ist, kann morgen schon teuer sein. Und manchmal ist es sogar umgekehrt.
Außerdem: Excel-Tabelle hin oder her, dieser buchhalterische Ansatz berücksichtigt nicht den Raum für Flexibilität und spontane Abstecher und Umwege, den Interrail trotz aller Einschränkungen noch bietet. Wieviel diese Freiheit wert ist? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Für mich kann ich sagen: Sehr viel. So viel, dass ich in der Regel keinen Gedanken daran verschwende, ob sich Interrail für meine Zugreisen finanziell lohnt.
Mehr über Rabattaktionen bei Interrail lest ihr hier.
Der zweite Knackpunkt sind natürlich die Reservierungen. In Ländern mit Reservierungspflicht lohnt sich Interrail eher weniger als in Ländern, in denen man einfach so in jeden Zug einsteigen kann. Und zwar nicht nur preislich – jede Reservierung kostet zusätzlich – sondern auch, weil sie Interrail die Flexibilität nehmen. Und damit ganz einfach auch ein Stück vom Spaß.
Und dann gibt es noch einen dritten Aspekt, der mir wichtig ist: Interrail lohnt sich eher in Ländern mit einem dichten Streckennetz und einem eng getakteten Fahrplan. Denn was bringt mir die schöne Flexibilität, wenn nur einmal am Tag ein Zug fährt? Interrail ist damit auch ein wenig ein Qualitätstest für das Bahnsystem eines Landes: Wo Interrail Spaß macht und unkompliziert ist, gibt es in der Regel auch eine gute, leistungsfähige Eisenbahn.
Interrail-Länder: Hui bis Pfui
So, jetzt aber Butter bei die Fische. Wo lohnt sich Interrail denn nun und wo eher nicht? Ich habe die Länder und Regionen, in denen Interrail gilt, in drei Gruppen eingeteilt:
Bei diesen Ländern könnt ihr in der Regel bedenkenlos zugreifen. Kleinere Nervereien gibt es zwar auch hier, aber im Großen und Ganzen ist Interrail ein Vergnügen.
Hier ist Interrail theoretisch zwar gut möglich, es gibt aber in der Praxis gute Gründe, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Meist, weil reguläre Tickets sehr günstig sind oder das Bahnnetz von bescheidener Qualität.
Einige Länder und Bahnunternehmen legen Interrailern jeden erdenklichen Stein in den Weg. Über diese Gruppe müssen wir hier sprechen.
Noch ein Wort, bevor es losgeht:
Das hier ist meine persönliche Einschätzung. Ich reise viel und oft mit Interrail durch Europa und habe dadurch einiges an Erfahrung gesammelt. Aber selbstverständlich ist das nicht die einzig wahre Sicht, und ihr müsst nicht meiner Meinung sein. Ich freue mich über eure Einschätzungen in den Kommentaren!
Die Spitzengruppe 🟢
Deutschland, Österreich, Schweiz
Ja, langweilig, aber es ist einfach so: Nirgendwo lässt sich so gut interrailen wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz! Ihr könnt in jeden Zug einfach einsteigen, es gibt einen dichten Takt und Bahnlinien in fast jedes Dorf. Außerdem sind reguläre Tickets ohne Rabattkarten ziemlich teuer, so dass sich die Kosten für Interrail schnell amortisieren. Einziger Haken: Die meisten von euch können Interrail in einem der drei Länder nicht nutzen, denn es gilt schließlich nicht dort, wo man wohnt.
Großbritannien & Irland
Da reguläre Tickets in Großbritannien absurd teuer sind, hat man den Interrail-Pass manchmal schon nach zwei Zugfahrten wieder raus. Außerdem braucht ihr fast nirgendwo Reservierungen, und das älteste Bahnnetz der Welt ist immer noch eines der dichtesten. Ja, Interrail in Großbritannien wäre wirklich ein absoluter Traum – wäre da nicht Eurostar. Doch dazu später mehr.
Fast alles gilt auch für Irland und Nordirland, einzig die Bahnnetze und Fahrpläne sind hier etwas dünner.
Nordische Länder
Eine sichere Bank fürs Interrailen ist auch Nordeuropa. Hier rentiert sich der Pass oft schon durch die lange An- und Abreise. In Dänemark und Finnland könnt ihr in jeden Zug einfach so einsteigen. Gerade Dänemark hat ein sehr gutes Bahnnetz mit Taktverkehr und ist mein Top-Tipp unter den nordischen Ländern. In Schweden und Norwegen muss man Fernzüge zwar reservieren, das kostet aber nicht viel und ist einfach online möglich.
Benelux
Belgien und die Niederlande punkten mit einem extrem dichten Bahnnetz und einem Takt, von dem andere Länder nur träumen können. Auf vielen Relationen fährt alle 15 Minuten ein Zug. Wer hier mit Interrail unterwegs ist, muss sich nicht groß um Fahrpläne kümmern, sondern kann sich einfach treiben lassen. Ausnahme ist Luxemburg: Dort ist Zugfahren seit 2020 für alle kostenlos. Aber wer kauft schon ein Interrail-Ticket nur für Luxemburg …
Das Mittelfeld 🟠
Italien
Kommen wir zum ersten großen Urlaubsland des Südens. Ich habe das Zugreisen in Italien in den letzten Jahren richtig schätzen gelernt, und auch mit Interrail ist es im Grunde gut möglich. Es gibt allerdings ein paar Stolpersteine: Fernzüge der Trenitalia muss man reservieren. Das ist etwas teurer als in Nordeuropa, und manchmal sind die Züge schlicht ausverkauft. Dazu kommt: Die Reservierungen sind nicht ganz so leicht zu bekommen, gerade bei Nachtzügen geht das oft nur über Drittanbieter. Und Italo, der andere große Zugbetreiber in Italien, akzeptiert überhaupt kein Interrail.
Östliches Mitteleuropa
Eine Region, von der ich nicht müde werde zu sagen: Fahrt da mal hin! Zugreisen in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und auch Slowenien sind ein großes Vergnügen. Allerdings sind gewöhnliche Tickets oft recht günstig, und in Polen wie auch in Ungarn braucht ihr inzwischen für viele Züge eine Reservierung. Da auch die Anreise aus dem deutschsprachigen Raum nicht besonders weit ist, lautet mein Fazit bei Interrail: Kann man machen, muss man aber nicht.
Südosteuropa & Balkan
Eine große Gruppe von Ländern mit einem Problem: Eisenbahnen, in die über Jahrzehnte kaum investiert wurde und die teils aus dem letzten Loch pfeifen. Lediglich Serbien und – mit Abstrichen – Kroatien und Bulgarien versuchen, ihr Netz zu modernisieren.
In anderen Balkanländern muss man eher Sorge haben, dass der Betrieb jederzeit eingestellt wird. Je nach Gemütszustand kann man das katastrophal oder charmant finden. Fakt ist: Mit leistungsfähiger Mobilität hat das wenig zu tun, und mit normalen Tickets fahrt ihr günstiger. Rechnet man die Anreise aus Mitteleuropa mit ein, kann Interrail aber trotzdem eine Option sein.
Baltikum
Den umgekehrten Weg geht gerade das Baltikum. Auch in Estland, Lettland und Litauen lag die Bahn lange brach, doch nun gibt es Bestrebungen, die Situation zu verbessern, und die Fortschritte sind rasant. Noch gibt es allerdings vergleichsweise wenige Verbindungen, gerade zwischen den drei Ländern, so dass sich Interrail allein für Zugfahrten durch das Baltikum kaum lohnt. Anders sieht es aus, wenn ihr das Baltikum als Teil einer längeren Zugreise „mitnehmt“, etwa einmal um die Ostsee herum.
Portugal
Im Gegensatz zu Spanien (dazu gleich mehr) hat Portugal eine wirklich charmante Eisenbahn, die aus dem, was ihr zur Verfügung steht, viel macht. Da normale Tickets aber sehr günstig sind, und man mit Interrail die Fernzüge Alfa Pendular und Intercity reservieren muss, was obendrein nur vor Ort möglich ist, fährt man mit normalen Tickets oft besser. Doch auch hier gilt: Nach Portugal muss man erst mal hinkommen, und selbst wenn ihr dabei durch die „Todeszone“ müsst, kann Interrail eine Möglichkeit sein.
Die Problemzone 🔴
Frankreich
Ich liebe Frankreich. Und auf eine Art liebe ich auch die SNCF in ihrer schrägen Schrulligkeit. Aber es gibt wohl keine Bahn, die Interrailern das Leben so schwer macht. Natürlich muss man jeden Fernzug reservieren (Ausnahme: einige Intercity-Verbindungen). Seit Neuestem versucht die französische Bahn auch, Regionalzüge mit Reservierungen zu belegen. Und, na klar, auch in internationalen Zügen nach Paris geht nichts ohne eine oft kostspielige Reservierung. Dazu kommen gewürfelte Fahrpläne und kleine Gemeinheiten wie Zugangssperren an größeren Bahnhöfen.
Spanien
Keine Bahn, die Interrailern das Leben so schwer macht? Da hatte ich wohl für einen Moment die Renfe vergessen! Die spanische Bahn will eine Airline auf Schienen sein, hat dabei aber vor allem das Schlechte übernommen: Check-ins, Gepäckkontrollen, Plastik-Züge ohne Beinfreiheit. Interrailer werden hier höchstens geduldet und müssen selbst Regionalbahnen reservieren. Immerhin: Inzwischen müsst ihr nicht mehr für jede Reservierung stundenlang Schlange stehen, sondern könnt einiges online erledigen.
Eurostar
Aber es geht noch schlimmer. Machen wir es kurz: Eurostar ist der Endboss. Seit der Fusion mit Thalys betreibt Eurostar nicht nur die Tunnelzüge nach London, sondern auch das Schnellfahrnetz zwischen Amsterdam, Brüssel und Paris. Wer schnell durch Westeuropa oder nach Großbritannien will, kommt an Eurostar kaum vorbei.
Und Eurostar nutzt seine marktbeherrschende Stellung gnadenlos aus: Reservierungen sind nicht nur exorbitant teuer, sondern auch streng kontingentiert, und damit einfach oft: ausverkauft. Eurostar lässt lieber einen Platz leer, als ihn einem Interrailer zu geben. Das nervige Check-in-Theater Richtung London kommt noch obendrauf, aber dafür kann Eurostar ausnahmsweise nichts.
Fazit
Das war meine Einschätzung zu den Interrail-Ländern. Seid ihr nun schlauer? Oder eher verwirrter als vorher? Zum Abschluss möchte ich euch noch einen Gedanken mit auf den Weg geben: Vielleicht fragt ihr euch ja, wo die kleine Szene vom Anfang gespielt hat.
Die Antwort: In den Pyrenäen, also an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich. Jawohl! Selbst hier, in den vermeintlich „schlimmsten“ Interrail-Ländern, gibt es Nischen, in denen Interrail richtig Spaß machen kann.
Ob sich Interrail lohnt oder nicht, liegt am Ende an euch. An eurer Einstellung. Denn Interrail ist nicht nur ein Ticket, sondern eine Idee, ein europäischer Gedanke, eine Gemeinschaft. Da kommt es nicht immer auf den letzten Cent an.
Oder kurz: Interrail ist, was ihr daraus macht.
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