Als ich letztens mal wieder mit dem Finger über meine Lieblings-Eisenbahnkarte fuhr, fragte ich mich: Wie viele Bahnstrecken gibt es eigentlich in Europa, auf denen man den Polarkreis überqueren kann? Ich kam auf fünf.* Eine in Norwegen sowie je zwei in Schweden und Finnland.

Außerdem fiel mir auf: Ich hatte das Privileg, alle nordischen Polarkreisbahnen bereits bereisen zu dürfen. Darum dachte ich mir, ich stelle sie euch in der ersten regulären Ausgabe der neuen Zugpost einmal vor.

*Plus eine in Russland, aber dort kann und will man aus offensichtlichen Gründen gerade nicht hin, darum lassen wir die außen vor.

1. Nordlandbahn, Norwegen

Norwegen ist wirklich nicht arm an tollen Bahnstrecken. Aber die Nordlandbahn ragt noch einmal heraus. Mit 729 Kilometern ist die Strecke von Trondheim nach Bodø nicht nur länger als alle anderen, sondern auch wilder und rauer.

Das fängt schon bei den Zügen an. Diese surren nicht elektrisch über das Gleis, sondern werden von einer wummernden Diesellok hinauf in den Norden gezogen. Etwa zehn Stunden brauchen sie für die gesamte Strecke, ein bisschen Ausdauer müsst ihr also mitbringen. Dafür ist der Fahrplan denkbar einfach: Pro Richtung gibt es einen Zug am Tag, dazu kommt ein Nachtzug.

Winterliche Szenerie auf der Nordlandbahn
Hier zeigt sich die Nordlandbahn noch ganz zahm

Von den bunten Speicherhäusern in Trondheim geht es zunächst durch das – für norwegische Verhältnisse – flache Trøndelag. Trügerisch ruhig funkeln Trondheimfjord und Snåsavatnet, Norwegens sechstgrößter See, vor sich hin.

Bald ändert sich die Szenerie. Wilde Flüsse und Bäche übernehmen das Kommando, sie graben sich tief in die immer steilere Landschaft. Schlängelnd folgt die Nordlandbahn ihren Lauf.

So geht es für einige Stunden dahin, ehe am Nachmittag dann der Höhepunkt wartet. Die Diesellok nimmt Anlauf auf das Saltfjell. Mit jedem Meter, den der Zug an Höhe gewinnt, wird die Landschaft karger. Wenn dann ein Laufband die Passage des Polarkreises verkündet, sind auch die letzten Sträucher verschwunden. Im Winter kann man hier oben leicht die Orientierung verlieren. Wohl nirgendwo in Europas Bahnnetz fühlt man sich der Arktis näher.

Kurz nach dem Polarkreis ist mit 680 Metern der Scheitelpunkt der Strecke passiert. Es geht hinab ans Nordmeer, wo der Zug auf den letzten Kilometern kurvenreich der Küstenlinie folgt. Wer mag, kann nach einer kurzen Stippvisite in Bodø mit dem Nachtzug direkt wieder zurückfahren.

Doch auch ein längerer Besuch in Europas Kulturhauptstadt 2024 lohnt sich. Bodø ist außerdem das südliche Tor zu den Lofoten, auf die es mit der Fähre geht. Auf den Lofoten selbst führen dann Busse zum Ziel. Zum Beispiel nach Narvik, wo die nächste Polarkreisbahn wartet.

Infos: Die Züge auf der Nordlandbahn werden von SJ Nord betreiben. Neben den Fernzügen Trondheim–Bodø gibt auf einzelnen Abschnitten Regionalverkehr. Fahrpläne und Tickets auf entur.no. Wer mit Interrail reist, braucht zwingend eine Platzreservierung.

2. Erzbahn, Schweden

Der Name ist treffend gewählt. Denn ohne das Eisenerz, das sie in den Gruben von Gällivare und Kiruna dem lappländischen Boden abringen, gäbe es die Erzbahn nicht. In endlos langen Güterzügen wird die Beute zum eisfreien Hafen von Narvik gebracht, und von dort in die weite Welt.

Personenverkehr ist da nur Beiwerk.

Aber was fürs eins: Mit dem Nachtzug Stockholm–Narvik, auch bekannt als Arctic Circle Train, ist auf der Bahnstrecke von Luleå nach Narvik einer der Klassiker des europäischen Zugreisens unterwegs. Mit 1500 Kilometern und 18 Stunden Fahrzeit eine der längsten Nachtzugreisen überhaupt.

Nachtzug in Abisko
Ein Nachtzug erreicht Abisko an der Erzbahn

Was man leicht vergisst: Narvik liegt in Norwegen. Damit handelt es sich bei der Erzbahn um die einzige internationale Polarkreisbahn. Bahntechnisch ist Narvik jedoch eine Insel, es besteht keine Verbindung zum übrigen norwegischen Netz. Dass die Züge seit einigen Jahren von der norwegischen Vy betrieben werden, obwohl 92 Prozent der Strecke in Schweden liegen, während Schwedens SJ wiederum auf der komplett norwegischen Nordlandbahn unterwegs ist, gehört zu den Wunderlichkeiten des liberalisierten Bahnsystems.

Den Polarkreis quert die Erzbahn schon viel weiter südlich, mitten in der nordschwedischen Wildnis. Genauer gesagt beim Weiler Polcirkeln zwischen den Stationen Murjek und Nattavaara. Von hier haben die Züge nach Narvik noch über fünf Stunden Fahrt vor sich.

Doch der spektakulärste Teil beginnt hinter der Grenze, wenn der Zug sich von den Höhen des Skandinavischen Gebirges hinunter zum Polarmeer schraubt. Das solltet ihr auf keinen Fall verpassen. Auf der anderen Seite ist das schönste Ziel an der Erzbahn jedoch das schwedische Abisko am gleichnamigen Nationalpark. Hier beginnt nicht nur der legendäre Kungsleden, auch sonst kann man tolle Tageswanderungen unternehmen, Polarlichter sehen oder einfach nur die grandiose Natur genießen.

Ein Dilemma? Nur scheinbar, denn nachdem der Nachtzug Narvik am Mittag erreicht hat, macht er sich keine drei Stunden später schon wieder auf die Rückfahrt. Ihr könnt also bis Narvik durchfahren, euch ein wenig die Beine vertreten und direkt wieder einsteigen. Pünktlich zum Abendessen seid ihr dann in Abisko.

Infos: Auf der Strecke Luleå–Narvik gibt es neben dem Nachtzug aus Stockholm täglich einen Intercity. Die Züge werden von der norwegischen Vy betrieben, Tickets gibt es auf sj.se. Interrail ist gültig, Reservierungen sind zwingend erforderlich. Zwischen Luleå und Kiruna pendeln außerdem zuschlagsfreie Nahverkehrszüge.

3. Inlandsbahn, Schweden

Dass der Weg das Ziel ist, gilt wohl nirgendwo so sehr wie auf Schwedens zweiter Polarkreisbahn. Die Inlandsbahn wird heute auf zwei Abschnitten allein im touristischen Verkehr bedient. Und zwar nur im Sommer, wenn die Tage in Nordschweden endlos sind.

So nimmt man sich auf dieser Fahrt Zeit. Mehrmals halten die Dieseltriebwagen an Sehenswürdigkeiten oder zur Einkehr in Restaurants direkt an der Strecke. Kaffee und Kuchen wird sogar direkt an den Zug gebracht. Dazu kommt die unberührte Landschaft und Bahntechnik, die sich seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum verändert hat.

Kurzum: Eines von Europas ganz großen Bahnvergnügen.

Triebwagen der Inlandsbahn
Die Fahrt mit der Inlandsbahn gehört zu den großen Bahnvergnügen

Insgesamt ist die historische Inlandsbahn 1288 Kilometer lang und führt von Kristinehamn im Süden nach Gällivare im Norden. Als letztes großes Eisenbahnprojekt Schwedens ging sie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in Betrieb. Eigentlich zu spät, denn das Auto war damals schon im Begriff, der Eisenbahn den Rang abzulaufen. So hat die Trasse fernab der Küste nie die erhoffte Bedeutung erlangt und war lange von der Einstellung bedroht.

Nach über 12 Stunden Fahrt auf dem Nordabschnitt erwartet euch der letzte Sightseeing-Stopp: der Polarkreis, der hier ausdrücklich betreten, bestaunt und fotografiert werden kann.

Anschließend bekommt ihr sogar ein Polarkreis-Zertifikat vom Tourguide ausgehändigt. Die Guides sind auf jedem Zug dabei und lockern die Fahrt mit Geschichten über Land und Leute auf. Der lange Tag auf der Inlandsbahn endet in Gällivare, wo die Strecke auf die Erzbahn trifft.‌

Infos: Touristischen Verkehr gibt es auf den Abschnitten Mora–Östersund und Östersund–Gällivare. Die Saison läuft vom 19. Juni bis 27. August 2023. Fahrpläne und Tickets gibt es auf inlandsbanan.se. Interrail gilt auch in den Zügen der Inlandsbahn. Sitzplatzreservierungen sind nicht erforderlich, in der Hauptreisezeit im Juli aber zu empfehlen. 

4. Tornio–Kolari, Finnland

Beide Polarkreisbahnen in Finnland haben etwas gemeinsam: Sie werden ausschließlich von Nachtzügen befahren. Am weitesten in den Norden vordringen könnt ihr auf der Bahnstrecke nach Kolari. Technisch gesehen beginnt sie in Tornio, das zusammen mit Haparanda eine finnisch-schwedische Doppelstadt am Bottnischen Meerbusen bildet.

Die Reise der Nachtzüge beginnt natürlich schon weitaus früher, in Helsinki. Sie erreichen Tornio über Oulu und Kemi, wo die zweite Polarkreisbahn nach Rovaniemi und Kemijärvi (siehe unten) abzweigt. Da die Kolari-Bahn nicht elektrifiziert ist, übernehmen ab Oulu zwei kräftige Dieselloks die langen Züge. Neben einer Handvoll Schlafwagen führen sie auch Sitzwagen, einen Speisewagen und Autotransportwagen.

Nachtzug in Kolari
Der Nachtzug aus Helsinki erreicht das winterliche Kolari

In Tornio knickt die Strecke ins Inland ab und folgt nun 180 Kilometer weitgehend dem Fluss Torne. Mitten durch das Flussbett verläuft die Grenze zwischen Finnland und Schweden.

Das Tornetal ist eine Region mit wechselvoller Geschichte. Finnen, Schweden und Sami haben auf beiden Seiten des Flusses ihre Spuren hinterlassen. Bis heute wird hier Meänkieli gesprochen, eine Variante des Finnischen mit starken schwedischen Einflüssen. Und noch ein interessantes Detail: Das Wasser, das dem Nachtzug im Torne entgegen fließt, gilt nicht nur als eines der reinsten in Europa, sondern kommt ursprünglich aus dem See Torneträsk bei Abisko – hat also schon eine andere unserer Polarkreisbahnen gesehen.

Doch zurück nach Kolari, was selbst nur ein kleines Dörflein ist. Die zugehörige Gemeinde dagegen ist riesig, wie in Lappland üblich. Auf ihrem Gebiet befindet sich der 718 Meter hohe Yllästunturi, höchster Punkt einer langen Fjell-Kette, die je nach Jahreszeit Skiläufer und Wanderer gleichermaßen erfreut.

So ist es kein Wunder, dass die meisten Nachtzugreisenden Kolari gleich wieder verlassen, um sich mit Bussen und Taxis in die beliebten Feriendestinationen am Fjell zu zerstreuen.

Infos: Nachtzüge der finnischen Bahn lassen sich einfach auf vr.fi buchen. Mit etwas Vorlauf gibt es Tickets mit Schlafwagenabteil bereits ab 49 €. Zuschläge für Interrail gibt es telefonisch, am Bahnhof in Helsinki und Tampere oder, sofern noch Plätze frei sind, direkt beim Zugteam.

5. Kemi–Kemijärvi, Finnland

Eine Zugfahrt nach finnisch Lappland endet für die meisten in Rovaniemi, der Hauptstadt der Region. Rovaniemi liegt aber nur am Polarkreis. Wollt ihr ihn tatsächlich überqueren, müsst ihr noch ein Stückchen weiterfahren, und zwar mit dem Nachtzug nach Kemijärvi.

Kemijärvi ist der nordöstliche Endpunkt des finnischen Personenzugverkehrs. Mit einem einzigen Zugpaar am Tag hat Kemijärvi wie Kolari einen äußerst überschaubaren Fahrplan. Dafür ist er so gestaltet, dass ihr die Polarkreisüberquerung, etwa 30 Kilometer hinter Rovaniemi, beim Frühstück oder Abendessen im Speisewagen zelebrieren könnt.

Bahnstrecke in Kemijärvi
In Kemijärvi endet der finnische Personenzugverkehr

Seine zentrale Lage macht Kemijärvi zum idealen Ausgangspunkt für Abenteuer aller Art in Lapplands wilde Natur. Unbedingt zu empfehlen ist ein Besuch der großartigen Nationalparks der Region. Die Stadt selbst ist mit kaum 5000 Einwohnern eher ein Städtchen, liegt aber idyllisch am gleichnamigen See Kemijärvi und bietet alle Annehmlichkeiten.

Wenn ihr auch einmal auf die Eisenbahnkarte guckt, wird euch auffallen, dass der Schienenstrang von Kemijärvi noch viel weiter geht, sogar bis zur russischen Grenze und darüber hinaus.

Das hat viel mit den Irrungen und Wirrungen des Zweiten Weltkrieges, beziehungsweise des finnisch-russischen Winterkrieges zu tun. Wer sich dafür interessiert, findet mehr zu den Hintergründen in der Wikipedia. Im September 1944 gab es sogar eine kurze Phase, in der die Strecke durchgängig bis zur Murmanbahn von St. Petersburg nach Murmansk befahrbar war.

Letztere ist übrigens die sechste und letzte Polarkreisbahn in Europa. Aber über die soll hier ja nicht die Rede sein.

Infos: Den Streckenabschnitt Rovaniemi–Kemijärvi befährt ein täglicher Nachtzug von Helsinki. In Kemijärvi gibt es einige Unterkünfte (zum Beispiel das familiäre Hotel Uitonniemi direkt am See) sowie Busverbindungen in die Nationalparks Pyhä-Luosto und Salla.

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